Knaller an der Zeitungsfront

Monday, June 04, 2007

Gut geplanter Gewaltausbruch (fr)

Thema des Tages
Gut geplanter Gewaltausbruch
Autonome zerstören den Protest in Rostock
VON BERNHARD HONNIGFORT UND NADJA ERB

Rostock. Der Bratwurstverkäuferin in der Kröpeliner Straße müssen später die Worte im Hals stecken geblieben sein. Am Samstagmittag hatte sie noch über die Rostocker geschimpft: "Ich dachte, das ist eine weltoffene Stadt. Und jetzt haben sich hier alle verrammelt." Die Galeria Kaufhof, Pimkie und Orsay, H&M, Rossmann, der Fernsehladen, der Bäcker - alle hatten geschlossen, hatten ihre Geschäfte mit Brettern und Spanplatten zugenagelt. An manchen Bretterwänden klebten hämische Zettel: "Danke Landesregierung." Rostock war eine Geisterstadt, leergefegt. Die Einwohner der Altstadt, weg, wie vom Erdboden verschluckt. Es war, als drohte Rostock ein Orkan oder eine Jahrhundertflut und alle seien geflohen.

Als gegen Mittag tausende Demonstranten durch die Stadt zogen, hatte die Band "Mad Maxamum" am Bahnhof gehöhnt: "Wir sind die Guten, die Allerbesten, gestern haben sie die Fenster zugenagelt, als wären wir Terroristen."

Samstag, 15 Uhr: Die beiden großen Demonstrationszüge treffen am Stadthafen ein. 25 000 Menschen, sagt die Polizei, 80 000 Werner Rätz von Attac. Ein buntes Bild, das eher an Karneval erinnert, Riesenpuppen, Trommler. Ein friedlicher Zug. Am Warnowufer steigt ein Polizist auf eine Mauer, verschafft sich einen Überblick: "Alles bestens, alles friedlich", ruft er in sein Handy. Tausende sind auf dem Platz am Hafenbecken angekommen, dem Ort der Abschlusskundgebung und der Konzerte. Die Polizei hält sich im Hintergrund, ihre Wagen parken in Nebenstraßen. "Sehr friedlich", sagt auch Oliver Moldenhauer. Der 36-jährige Physiker sitzt an Deck des Seglers "Störtebeker". Er ist mit dem Schiff für "Ärzte ohne Grenzen" in Rostock.

In diesem Augenblick geht es los, alles kippt. Die friedliche Demo wird zur Schlacht. Am Warnowufer greifen vermummte Autonome die Polizei an. Zwei Polizeiwagen werden "entglast", zwei Beamte verletzt. Blitzschnell haben die Angreifer zugeschlagen. Einige sind nicht nur angetrunken, sondern auch bestens vorbereitet: Sie tragen Hämmer, zerschlagen Gehwegplatten zu handlichen Steinen und bewerfen die Polizisten. Zielgerichtet und brutal gehen sie auf die Beamten los. Und nicht nur gegen die. Alles, was die Wege des Schwarzen Blocks kreuzt, wird mit Steinen und Bierflaschen beworfen und mit Latten und Stangen geschlagen. Am Boden liegt Florian Wilde. Er hält sich einen Eisbeutel aufs Knie, den ihm ein Sanitäter in die Hand drückte. Ein Stein traf den jungen Mann, der für die Forschungsstelle Menschenrechte fotografierte.

Während auf der Bühne die PDS-Politikerin Katja Kipping die Bahn-Privatisierung stoppen will und Tausende auf dem Platz ihr zuhören, spielen sich am Rand Jagdszenen ab. Die Polizisten hatten auf Schutzschilde verzichtet. Jetzt stehen sie einigermaßen schutzlos im Steinehagel. Einen trifft es am Kopf, er blutet unter dem Visier, Kollegen ziehen ihn nach hinten.

Dann schlägt die Polizei zurück. Wasserwerfer rücken an, alles rennt. Schwarzvermummte junge Männer bewerfen einen Feuerwehrwagen, zertrümmern die Scheiben. Die Feuerwehrleute gehen in Deckung. Ein Autonomer wirft einen Stein direkt in die Fahrerkabine. Das Auto rast um die Ecke, ein Feuerwehrmann hält sich den Ellenbogen. Die Autonomen ziehen durch die Altstadt, die Polizei mit Schlagstöcken hinterher. Molotowcocktails fliegen, ein geparktes Auto steht in Flammen. Mülleimer werden zur Barrikaden zusammen geschoben und in Brand gesetzt. Überall eingeschlagene Scheiben, brennende Papierkörbe, ein Schlachtfeld. Die Sparkasse auf der Langen Straße hat keine Türen mehr.

Immer wieder verstecken sich Steinewerfer unter den Demonstranten auf dem Hafenplatz. Jetzt geht die Polizei dazwischen und versucht sie zu fangen. "Bildet Ketten schützt unsere Kundgebung vor der Provokation der Polizei", ruft ein Demonstrant. Von der Bühne soll ein Mann dazu aufgerufen haben, den Krieg in die Demonstration zu tragen. Später sprechen die Organisatoren von einem Übersetzungsfehler der englischen Rede. Der Mann habe dazu aufgerufen, gegen den Krieg im Irak zu protestieren. Hunderte fliehen vor der Straßenschlacht. Eltern schnappen ihre Kinder, viele ducken sich, die Polizei setzt Reizgas gegen die Autonomen ein. "Nichts wie weg hier", brüllt ein älterer Mann, eingehüllt in eine regenbogenfarbene Pace-Fahne.

Am Abend steht Wirt Alex Krisch vor seiner Kneipe, dem Goldenen Anker. In der Altstadt gibt es nur noch kleinere Auseinandersetzungen. Es riecht nach Qualm und Reizgas. Das Abschlusskonzert läuft, die Band "Wir sind Helden" spielt. "Das ist eine Katastrophe", sagt Krisch immer wieder. Der Platz vor dem Gasthaus ist mit Glas und Steinen übersät. "Wie kann denn so etwas passieren?", fragt er. Die Leute um ihn herum schütteln nur den Kopf.

Auch die Polizei steht vor einem Rätsel. Damit hatte sie nicht gerechnet: 433 verletzte Polizisten, 33 davon mit schweren Wunden wie Fußbrüchen, Kopfwunden, gebrochenen Händen. Auf einen wurde mit einem Messer eingestochen. Wie viele Demonstranten verletzt wurden, weiß am Sonntag niemand genau. Über 500 sollen gemeldet sein. "Solche Übergriffe, solche aggressiven Attacken, damit haben wir nicht gerechnet", sagt Polizeisprecher Lüder Behrens am Sonntag. "Unsere Hinweise waren andere: Wir rechneten mit einer bunten und friedlichen Demo. Dann kam es urplötzlich ganz anders." 2000 Autonome, angeblich aus Berlin, Hamburg und dem Ausland. "Die waren offensichtlich vorbereitet."

Die Nacht wird ruhig. Die meisten Fenster bleiben dunkel. In der Kröpeliner Torvorstadt hat die Polizei eine Gefangenensammelstelle eingerichtet. Sie ist hell erleuchtet. Ein Mädchen steht davor, erkundigt sich nach ihrem Freund. Er brauche seine Medikamente, sagt sie. Die Polizisten hinter dem Gitter beruhigen sie. Ein Team von Ärzten kümmere sich um die Festgenommenen, sagen sie.

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