Selbstbildnisse eines Dichters (fr)
Günter Grass im Interview
Selbstbildnisse eines Dichters
Warum sich Günter Grass in Deutschland nicht erst seit seinem SS-Geständnis unfair behandelt fühlt und dennoch zuweilen lauthals die Nationalhymne singt, Lafontaine für einen Demagogen hält und sich an seinem Geburtstag gerne feiern lässt. Ein Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger, der am 16. Oktober 80 Jahre alt wird.
Herr Grass, Ihre Geburtsstadt richtet Ihnen schon jetzt, fast zwei Wochen vor Ihrem 80. Geburtstag am 16. Oktober, eine zweitägige Feier aus. Mit welchen Gefühlen fahren Sie nach Danzig?
Ich freue mich sehr darauf. Danzig ist meine Heimatstadt. Für die Menschen dort gehöre ich einfach zu den polnischen Literaturnobelpreisträgern dazu; sie sind stolz auf mich.
Als vor einem Jahr die Debatte um Ihre lange verschwiegene Zeit bei der Waffen-SS losbrach, gab es auch aus Polen harsche Reaktionen. Die Kaczynski-Brüder machten mit der Causa Grass Wahlkampf, Lech Walesa forderte zeitweilig, Sie sollten die Danziger Ehrenbürgerschaft zurückgeben...
... was er später zurückgenommen hat, nachdem ich einen persönlichen Brief an den Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz geschrieben hatte. Ich habe Adamowicz dafür bewundert, wie er sich in dem Streit vor mich gestellt hat. Zumal die Debatte von seinen Gegenspielern aus dem Umfeld der Kaczynskis politisch aufgeheizt worden war. Adamowicz hat das bravourös gemeistert. Aber nicht nur er, auch viele Schriftsteller und Intellektuelle aus Danzig und anderen Teilen Polens haben sich sehr gut verhalten.
Was meinen Sie mit "gut verhalten"?
Sie haben mich als Person in meiner Gesamtheit gesehen. Die Menschen in Polen wissen, dass ich über Jahrzehnte hinweg, vor allem während der Zeit des Kommunismus, dieses schwierige und schwierig bleibende Verhältnis zwischen Deutschen und Polen nicht zu harmonisieren versucht habe, sondern dass ich das Gespräch offen gehalten habe, was man in Deutschland zuletzt offenbar vergessen hatte.
Sie haben sich an Ihrem Geburtstag viel vorgenommen: Außer der Feier in Danzig richtet Ihnen Ihr Verlag am 20. Oktober eine große Party mit viel Prominenz in Göttingen aus. Dann wird es noch ein Familienfest geben. Andere Kollegen tauchen bei solchen Gelegenheiten lieber ab. Stehen Sie gerne im Mittelpunkt?
Ich tauche nicht ab. Ich habe nichts dagegen, wenn mein Verlag meint, das müsse man jetzt feiern. Runde und halbrunde Geburtstage habe ich schon immer im großen Kreis gefeiert. Diesmal jedoch wird es zunächst ein kleiner Kreis sein. Meine Kinder sind ja alle berufstätig, und da mein 80. Geburtstag auf einen Dienstag fällt, können die meisten nicht kommen. Den großen Familiengeburtstag feiern wir dann am Wochenende. Ich hoffe, dass wir viel tanzen werden. Ich tanze noch immer leidenschaftlich gerne und habe mir eine Dixieland-Band gewünscht; mal sehen, was daraus wird. Aber von meiner Familie kommen alle.
Acht Kinder und 15 Enkelkinder.
Inzwischen sind es 16 Enkelkinder. Sonst stimmt alles.
Sie sind seit langem mit Ihrer zweiten Frau Ute verheiratet , Ihre Groß-Familie ist fast ein soziales Kunststück, Patch-Work würde man auf Neudeutsch sagen. Wie haben Sie das alles zusammengehalten in den vergangenen Jahrzehnten?
Dass Ehen geschieden werden, kommt in den besten Familien vor. Dann kommt es darauf an, dass die beteiligten Erwachsenen, bei all den Gründen, die sie dazu bringen, nicht mehr zusammenzuleben, kein Gezerre zu Lasten der Kinder anstellen. So konnte das zusammenwachsen. Diese Art von Familiensinn habe ich auch meinen Kindern mitgeteilt. Sie sehen, meine Familiensituation ist nicht repräsentativ für jene Szenarien, die uns vor einer überalterten Gesellschaft warnen, in der es immer weniger Kinder gibt. Was ich übrigens schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt, 1980, in meinem Buch "Kopfgeburten" beschrieben habe: "Die Deutschen sterben aus", hieß es da. Und trotzdem gibt es heute Leute, die jetzt Methusalem-Debatten lostreten und so tun, als hätten sie das Phänomen erfunden.
Was für eine Art Vater waren Sie: streng oder Laissez-faire?
Ich glaube, dass ich meinen Kindern Toleranz nahegelegt und auch vorgelebt habe. Ich hoffe, ihren Blick für die sozialen Schieflagen in der Gesellschaft geschärft zu haben. Ich habe Ihnen vermittelt, nicht nur auf den eigenen Bauchnabel zu gucken, sondern sich selbst als Teil einer Gesellschaft zu begreifen. Ich bin allerdings kein Spielvater gewesen. Ich habe mich nicht zu ihnen auf den Boden gehockt und Eisenbahnen aufgebaut oder Ähnliches gemacht.
Einer Ihrer Söhne hat heftig gegen Sie rebelliert und Strauß- und Kohl-Wahlplakate im Haus aufgehängt. Das hat Ihre Toleranz vermutlich auf eine harte Probe gestellt.
Gar nicht. Es war mein jüngster Sohn Bruno. Ich habe ihm versichert: "Das kannst du alles machen. Du kannst die Plakate in deinem Zimmer aufhängen, sie meinetwegen auch an dein Fahrrad kleben, aber an den Fenstern in meinem Haus will ich sie nicht sehen."
Und das hat er ohne murren akzeptiert?
Er ist dann ein paar Jahre später zu den Jungsozialisten gegangen. Das sind Prozesse, die Väter und Söhne durchmachen müssen. Er war damals erst 13. Während der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr haben wir uns gemeinsam das Spiel Deutschland gegen Schweden in München angesehen. Als die Mannschaften sich aufstellten und die deutsche Nationalhymne gespielt wurde, habe ich laut mitgesungen, mein Sohn allerdings nicht. "Bruno, warum hast du denn nicht mitgesungen?", fragte ich ihn. "Das hast du uns nicht beigebracht", meinte er. Das war wohl mein Versäumnis.
In Ihrem Gedicht "Zugabe" heißt es: "Wir ahnen, dass demnächst, wenn nicht sogleich, Schluss ist, hoffen aber auf Zugabe bis zuletzt, so verzögert sich bis zuletzt allgemein und speziell unser Ende, das seit langem vordatiert im Kalender steht." Gibt das Ihr momentanes Lebensgefühl wieder?
Diese Verse mache ich mir auch heute noch zueigen. Aber nicht nur, wenn es um mich persönlich geht. Man müsste schon blind sein, um nicht zu sehen, auf welch unheilvolle und unbelehrbare Weise wir wider bessere Einsicht die eigenen Lebensgrundlagen zerstören und nichts Entscheidendes dagegen tun. Und so ist ein Ende abzusehen. Aber da ich davon ausgehe, dass wir uns selbst in diese Lage gebracht haben, können die Folgen dieser Umweltvernichtung auch durch Menschen gemindert, zumindest herausgezögert werden. Das ist für mich Antrieb genug, auch weiter politisch tätig zu sein.
Sie könnten ja Ihr frühes absurdes Theaterstück "Hochwasser" aus dem Jahr 1957 wiederaufführen, das würde gut zu der gegenwärtigen Debatte über die Klima-Katastrophe passen.
Das ist lange her. Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Aber es stimmt, "Hochwasser" greift das Element des Bedrängtwerdens auf: Das Wasser steigt, die Menschen flüchten sich auf den Dachboden, sie sind keine Handelnden im klassischen Sinn.
Der renommierte britische Theaterwissenschaftler Martin Esslin hat Sie und Wolfgang Hildesheimer seinerzeit als einzige Deutsche in seinen Kanon der Autoren des absurden Theaters aufgenommen. In Deutschland wurden diese Arbeiten kaum wahrgenommen. Verletzt Sie das?
In meiner Wahrnehmung kommen sie schon vor. Ich kann wenig dazu sagen, wenn andere es nicht so sehen. "Hochwasser" wird ab und zu noch im Ausland aufgeführt, meistens machen das Schüler. Aber das etablierte Theater in Deutschland nimmt davon schon lange keine Kenntnis mehr. Es war auch nicht so, dass ich mich während meiner Zeit in Paris mit Beckett oder Ionesco intensiv beschäftigt hätte. Ich steckte selbst so drin in der Thematik, als ich meine Stücke schrieb. In Deutschland hat man mich später als eine Art Epigonen des absurden Theaters dargestellt, Hildesheimer übrigens auch. Das mag sicher auch ein Grund dafür sein, dass diese Stücke damals fast nur auf Studentenbühnen gespielt wurden. Irgendwann kam dann das Regietheater, das von einem Autor eigentlich nur noch Libretti erwartete, mit denen Regisseure nach Belieben verfahren konnten. Da habe ich dann aufgehört, fürs Theater zu schreiben.
Es gibt viele Facetten in Ihrer Vita, die in der öffentlichen Wahrnehmung heute keine Rolle mehr spielen, der Autor des absurden Theaters ist eine davon. Eine andere ist die des literarischen Welt-Stars, des einzigen, den Deutschland zurzeit vorweisen kann. Um die Grass-Rezeption im Ausland macht man hierzulande nicht viel Aufhebens. Ärgert Sie das?
Das ist nun mal so, und ich habe mich daran gewöhnt. Das Schöne ist, dass ich in vielen Ländern ganz anders wahrgenommen werde. In Südamerika beispielsweise wird "Die Blechtrommel" als eine Art Vorläufer von "100 Jahre Einsamkeit" von Marquez gesehen. Dort ordnet man mich dem magischen Realismus zu. Die sehen in mir einen Verwandten, einen Vorvater ihrer eigenen Literatur.
Dass Ihr Debüt "Die Blechtrommel" in den 50er Jahren gleich einen US-amerikanischen Verleger fand, ist genauso kurios.
Im Sommer 1959 hatte ich einen Brief des legendären Verlegers Kurt Wolff aus New York erhalten. Er wollte mich in einem Hotel in Zürich sprechen, in einem großbürgerlichen Schuppen. So was hatte ich bis dahin noch nie von innen gesehen. Er kam mir in der Hotelhalle entgegen, ein hochgewachsener Gentleman, neben ihm eine Person, die ich für seine Sekretärin hielt. Es war seine Frau, Helen Wolff. "Ich spiele mit dem Gedanken, Ihr Manuskript in Amerika zu veröffentlichen", sagte er mir, "werden die amerikanischen Leser das verstehen?" Ich antwortete: "Das glaube ich nicht. Das Buch spielt in der Provinz, nicht mal in Danzig, in einem Vorort von Danzig. Es kommt viel Umgangsdeutsch darin vor. Es ist ganz auf die Provinz konzentriert." "Sie müssen gar nichts mehr sagen", unterbrach er mich, "alle große Literatur wurzelt in der Provinz. Ich bringe Ihr Buch in Amerika heraus." Der Roman ist dann bei Random House erschienen.
Was Sie an Amerika nicht mögen, wissen wir: die Arroganz, den Raubtierkapitalismus, die Unfähigkeit zu lernen. Was lieben Sie an Amerika?
Mein Verhältnis zu Amerika war immer ambivalent. Zum einen schätze ich diesen unkomplizierten Umgang mit Menschen. Nur ist diese Offenheit immer auch mit einer gewissen Naivität verbunden. Selbst Leute aus der gebildeten, liberalen Schicht sind oft sehr Amerika-zentriert und haben wenig Ahnung vom weit größeren Rest der Welt – dafür aber ein amerikanisches Selbstverständnis, das sie für mustergültig halten. Als sei dies das Modell, das die Welt gefälligst übernehmen sollte: the American way of life. Das kann in Krisensituationen, wie wir sie heute erleben, ein furioses und folgenreiches Scheitern zur Folge haben. Hervorgerufen aus einer Mischung aus Unkenntnis und gutem Willen – good will und no understanding.
Sie haben kürzlich in New York aus der Übersetzung Ihrer in Deutschland umstrittenen Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" gelesen und sich dort den Fragen der amerikanischen Journalisten gestellt. Waren Sie angespannt in Erwartung weiterer bohrender Fragen?
Nein. Die amerikanischen Journalisten waren gut informiert, hatten alles gelesen. Es gibt da einen grundsätzlichen Unterschied zu Deutschland: In der amerikanischen und angelsächsischen Literaturkritik ist man sich nie zu schade, dem Leser zunächst einmal mitzuteilen, worum es im Buch geht. Beim deutschen Feuilleton habe ich oft den Eindruck, dass es für sich selbst schreibt. Man will die Kollegen beeindrucken, oder es steht im Vordergrund, was sich der Rezensent vom Autor erwartet. Erfüllt er die Erwartungen, ist es in Ordnung. Erfüllt er sie nicht, ist die Reaktion entsprechend. Das ist in der angelsächsischen Literaturkritik anders: Da geht man von dem aus, was der Autor erreichen wollte, und überprüft dann, ob er das erreicht hat – danach richtet sich dann die Kritik. Das habe ich auch bei meinem jüngsten Besuch in New York wieder erlebt, in den Kritiken, aber auch in den Gesprächen mit der Washington Post und anderen. Diese Journalisten waren sehr gut informiert und haben sich wenig um das gekümmert, was im vergangenen Jahr in Deutschland über mich geschrieben wurde. Die sind von dem Buch ausgegangen.
Wie haben Ihre Leser in New York reagiert?
Sie waren offen und interessiert. Auch da spielte die moralische Debatte aus Deutschland kaum eine Rolle. Mein Verleger hatte eine dieser längeren Limousinen gemietet, wir hatten einen schwarzen Fahrer, der muss so Mitte 20 gewesen sein. Er sagte mir, er habe in der Schule "Katz und Maus" gelesen. Einige Bücher von mir gehören in den USA nach wie vor zur College-Allgemeinbildung.
Das klingt schon so, als wären Sie gekränkt und beleidigt darüber, wie man in Deutschland mit Ihnen umgeht. Fühlen Sie sich in den USA freier, besser verstanden?
Nicht nur in den USA, überhaupt im Ausland. Weil ich dort etwas erfahre, was im Umgang mit mir in Deutschland Mangelware geworden ist: Respekt gegenüber dem Werk, das in fünf, sechs Jahrzehnten entstanden ist – ganz gleich, wie man inhaltlich zu mir steht. Ich muss allerdings zugeben: Ich bin diesmal mit einer gewissen Melancholie aus den USA zurückgekommen. Weil ich vieles von dem, was mich früher an dem Land begeistert hat, nicht mehr vorgefunden habe.
Was meinen Sie damit?
Ich habe vieles in meinem politischen Verhalten aus Amerika übernommen. Mir hat immer imponiert, wie junge Leute, wenn Wahlen anstanden, ihr Studium beiseite geschoben haben und sich – meistens für demokratische – Kandidaten engagierten. Was ich später als Wählerinitiative in Deutschland gemacht habe, ist auf amerikanischem Mist gewachsen. Dieses Sich-als-Bürger-politisch-Einbringen habe ich mir in den USA abgeguckt. Heute dagegen scheinen mir in Amerika viele resigniert. Sie schimpfen über den spürbaren Prestigeverlust ihres Landes, der in der langen Bush-Ära entstanden ist. Es wird so hingenommen, es herrscht allgemeine Ratlosigkeit.
Sie sind oft in Amerika gewesen, 1966 gab es ein Treffen der Gruppe 47 in Princeton, bei dem viele deutsche Kollegen gegen das Gastgeberland und den Vietnamkrieg wetterten. Bis Sie selbst zum Mikrofon gingen und sich aufregten, dass jetzt alle Angst hätten, zu unterhaltsam zu sein. Das passt nun gar nicht zum Bild des bierernsten Moralisten Grass. Waren Sie damals ein anderer?
Nein. Ich war gegen den Vietnamkrieg, habe das offen ausgesprochen. Aber in den USA waren an den Universitäten sowieso alle gegen den Vietnamkrieg. Es bestand also kein Anlass, dass deutsche Autoren den Amerikanern eintrichterten, gegen den Vietnamkrieg zu sein. Ich fand diese Attitüde meiner deutschen Kollegen wenig komisch.
Es fällt trotzdem schwer, sich das heute vorzustellen: In einer Zeit, da sich der Think Tank der deutschen Literatur als kollektives Weltverbessererforum sieht, steht ausgerechnet Günter Grass auf und sagt: "Wo bleibt die Unterhaltung?"
Ich verstehe Ihre Irritation nicht. Denn so denke ich auch heute noch. Die Kunst folgt anderen Gesetzen als die Politik. In der Politik leben wir vom Kompromiss. Er ist die Grundvoraussetzung, um überhaupt überleben zu können in einer so zankwütigen und bis an die Zähne bewaffneten Welt. Das Gedicht kennt keinen Kompromiss. Der letzte Satz meiner Rede hieß: "Wer diese Spannung tätig aushält, ist ein Narr und ändert die Welt."
Ihr Freund, der US-Schriftsteller John Irving, hat mal ein Buch über den Vietnamkrieg geschrieben: Owen Meany, der Titelheld seines Romans, hat dieselben Initialen wie Oskar Matzerath. Im "Hotel New Hampshire" gibt es eine Tochter, die sich wie Matzerath weigert zu wachsen. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie zum ersten Mal diese Passagen lasen?
Ich dachte nur: Was für ein begabter Schüler. Er ist ja nicht der Einzige, Salman Rushdie zählt auch dazu. In "Mitternachtskinder" und "Schande" gibt es viele Anspielungen auf "Hundejahre" Und beide bekennen sich dazu.
Bekennen ist eine nette Untertreibung. Im "Hotel New Hampshire" lässt Irving seine Romanhelden mehrmals sagen, "Die Blechtrommel" sei der beste Roman überhaupt.
Ich bin äußerst skeptisch Autoren gegenüber, die so tun, als seien sie vom Himmel gefallen. Wir haben alle Lehrer gehabt, die wir uns selbst gesucht haben, an denen wir uns reiben, von denen wir übernehmen. Das sollte man dann auch sagen. So kenne ich es aus der Bildenden Kunst. Dort ist die Neigung, den Lehrer zu verleugnen, jedenfalls nicht so ausgeprägt wie in der Literatur.
Philip Roth ist ein weiterer US-Kollege, der Sie schätzt. Er erzählte uns von einem Treffen mit Ihnen an der Uni von Pennsylvania. Was hatten Sie sich zu sagen?
Ich schätze Roth sehr. "Portnoys Beschwerden" ist einfach wunderbar. Dieses Treffen mit ihm liegt schon zu lange zurück, ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich hatte zu einigen amerikanischen Autoren Kontakt. Mit Kurt Vonnegut war ich befreundet. Kurz vor seinem Tod hat er noch ein Interview gegeben, mit dem ihm eigenen Humor. Er war damals 85 und sagte: Er wolle gegen die amerikanische Tabakindustrie prozessieren, weil die ihm jahrelang versprochen hatte, Rauchen sei tödlich – und das sei nicht eingetreten. Ich fand das wunderbar – als Raucher darf ich das ja sagen.
In Philip Roths "Jedermann" stöhnt der Held: "Das Alter ist kein Kampf, das Alter ist ein Massaker."
Dem würde ich widersprechen. Aber wir sollten nicht Dichtung und Wahrheit verwechseln. Roth und ich, wir sind beide privilegiert, weil es in unserem Beruf kein Pensions- und kein Rentenalter gibt. Und offensichtlich fällt uns immer noch was ein. Auch wenn es Leute gibt, die sich darüber ärgern, dass wir noch schreiben, dass wir überhaupt noch da sind.
Sie spielen vermutlich auf TV-Kritikerin Elke Heidenreich an. Die zürnte: "Walser und Grass sind eitle alte Männer, die nicht den Mund halten könnten."
Was unterm Niveau ist, will ich nicht weiter kommentieren. Aber Tatsache bleibt, dass die Generation der 1926, 1927 Geborenen – zu der Lenz, Walser, Enzensberger und Rühmkorf, Christa Wolf und Erich Loest gehören – noch aktiv ist.
Sind Sie ein Platzhirsch, Herr Grass?
Das ist auch so eine Medien-Projektion. Ich treffe mich doch immer wieder mal mit jüngeren Kollegen wie Matthias Politycki oder Burkhard Spinnen. Wir lesen aus unseren Fragmenten vor, stellen uns der Kritik. Es ist nicht so, dass ich da als Platzhirsch mein Revier markieren würde. Ich gehöre einfach zu dieser Gruppe. Der Jüngste ist Benjamin Lebert.
Dem als 16-Jährigem gleich mit seinem Debüt-Roman "Crazy" ein Bestseller gelang.
Ja. Es war interessant zu beobachten, wie dieser junge Autor, sicher auch mit Hilfe des Managements seines Vaters oder von wem auch immer, diese wahnsinnigen Vorschüsse bei seinem Verlag aushandeln konnte. Die Erwartungen waren dann allerdings ebenfalls sehr hoch. Aber ich bin beeindruckt, wie tapfer er sich hält in dieser Situation. Ich habe ihn sehr früh kennen gelernt und ihm zum Umgang mit Verlegern den einen oder anderen Rat geben können.
Kommt es vor, dass Ihnen junge Autoren auch mal die Meinung sagen: Herr Grass, der Einstieg Ihres neuen Buchs ist misslungen?
Wir diskutieren viel und angeregt. Diese Treffen befriedigen meine Neugierde. Mich interessiert, woran sie arbeiten, mit welchen Widerständen sie zu kämpfen haben oder welche Widerstände ihnen fehlen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass einige Autoren zu viel auf Lesereise gehen. Und manchmal frage ich mich: Wann schreiben sie eigentlich ihre Bücher? Aber das hat auch damit zu tun, dass die Zahl der Veröffentlichungen zwar steigt, aber die Auflagen klein sind. Viele leben von den Lesungen. Ich will das nicht schelten, sie brauchen das, aber es ist nicht gut für die Literatur.
Und wie reagieren die Jungen, wenn der große Grass ihre Art von Geschäftigkeit kritisiert?Viele von ihnen sehen das ähnlich, sagen mir aber: "Wenn wir das nicht machen, kommen wir nicht über die Runden."Juli Zeh, eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Autorinnen, hat Sie in der Debatte um Ihre lange verschwiegene Vergangenheit in der Waffen-SS auf ungewohnte Weise verteidigt. Der Eklat war für sie ein sekundäres Medienspektakel...
...das war es ja auch.
Sie hat auch gesagt: "Grass ist für mich keine moralische Instanz, schon gar nicht der Papst von Deutschland, sondern eine Symbolfigur für den Gesinnungswandel in Deutschland." Sie hat Sie verteidigt, indem sie Sie vom Sockel stürzte.
Ich habe das nicht so empfunden wie Sie. Weil ich mich selbst nie auf diesen Sockel gestellt habe. All diese Titel: "Gewissen der Nation" und so weiter, sind mir von den Feuilletons oder von wem auch immer angehängt worden. Das war schon zu Bölls Zeiten Unsinn, mit ihm haben sie es ähnlich gemacht. Aber gegen so etwas ist kein Kraut gewachsen.
Wenn Sie sich den Eklat um Ihre verschwiegene Zeit in der Waffen-SS aus der Distanz eines Jahres ansehen: Würden Sie heute etwas anders machen?
Ich würde mich nicht mehr mit der FAZ einlassen. Das ist sicher. Aber darüber will ich nicht mehr reden. Es war anstrengend und verletzend.
Aber Sie hatten doch viele namhafte Fürsprecher: Irving, Rushdie, Norman Mailer.
Adolf Muschg sprach für mich, auch Kollegen, mit denen ich in politischen Dingen nicht immer übereinstimme. Ralph Giordano beispielsweise hat sich für mich ausgesprochen. Das hat mir geholfen.
1979 hatten Sie sich in einem Aufsatz die Frage gestellt "Wie sagen wir es unseren Kindern"…
…damals schrieb ich das "Tagebuch einer Schnecke". Mich beschäftigte, wie wir Auschwitz unseren Kindern erklären konnten, diese in die Millionen gehende Zahl von Toten, die so abstrakt sind, dass es schwer zu erklären ist. Deshalb habe ich im "Tagebuch einer Schnecke" parallel zur Gegenwartsgeschichte über einen laufenden Wahlkampf die Geschichte der Danziger Synagogen-Gemeinde erzählt. Ich habe versucht, das Unerklärliche an diesem überschaubaren Beispiel deutlich zu machen.
Wie haben Ihre Kinder, wie hat Ihre Familie im vergangenen Jahr reagiert, als Sie nach mehr als 60 Jahren über Ihre Vergangenheit bei der Waffen-SS berichteten?
Die waren einfach fabelhaft. Meine Familie bis hin zu den Schwiegertöchtern stand mir bei und hat mir – sei es mit Briefen, sei es mit kräftigen Umarmungen – geholfen, die Nachwirkungen von Niedertracht und Häme zu mildern.
Einige Kritiker wie Louis Begley fanden die Gründe für Ihr langes Schweigen nicht überzeugend, andere vermissten so etwas wie Reue und Scham. Ähnliche Kategorien wurden auch in einem ganz anderen Kontext eingefordert, als es um die Gnadengesuche des RAF-Mitglieds Christan Klar ging.
Es ist wie früher in kommunistischen Parteien oder in religiösen Sekten, wo so etwas wie öffentliche Selbstanklage erwartet wird. Dass man aufsteht und seine Sünden bekennt. Eine Demokratie, die Selbstbewusstsein hat, sollte auch Großzügigkeit offenbaren. Ich will das jetzt nicht auf mich selbst beziehen. Ich habe das alles überstanden, es ist gut jetzt. Es geht dabei um einen grundsätzlichen Wert. Ein Beispiel: Als das kommunistische System der DDR in sich zusammenbrach und mit ihm in ganz Europa der Eiserne Vorhang fiel, war das ein Wunder, weil es ohne Schüsse passierte. Und dennoch hatte später kein einziger westdeutscher Politiker die Großzügigkeit, sich bei der Leitung der Volkspolizei und der Volksarmee zu bedanken. Stattdessen gibt es eher die Bereitschaft, auf jemanden, der am Boden liegt, noch mal draufzutreten. Mir persönlich hat geholfen, dass ich in dieser für mich bedrückenden Zeit nicht das getan habe, was vielleicht erwartet wurde. Ich bin nicht verstummt, habe die Ereignisse des vergangenen Jahres in Gedichten für den Band "Dummer August" verarbeitet und Zeichnungen dazu gemacht. Das war hilfreich.
In der Lyrik-Sammlung wehren Sie sich in Versform gegen Ihre Kritiker, schreiben trotzig: "Makel verpflichtet." Wozu?
So ist es mein ganzes Leben lang gewesen. Wie viele meiner Generation bin ich gezeichnet von diesen zwölf Jahren des Nationalsozialimus, der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Einer Zeit, die mich und viele andere als dumm, unwissend und borniert entlassen hat. Die Zeit nach dem Krieg war ein mühsamer Lernprozess für mich, der sich über Jahre hingezogen hat. Bis mir der Grad der Verblendung deutlich wurde. Man kann sich leicht aufs Alter herausreden: Ich war bei Kriegsende 17 Jahre alt. Beim Häuten der Zwiebel stellte sich heraus, dass ich mit 14, 15, 16, 17 Jahren in bestimmten Situationen nicht die Fragen gestellt habe, die ich hätte stellen müssen oder stellen können. Das ist zwar keine tätige Mitschuld an etwas, aber Schuld, die aus Unterlassung entsteht. Ich habe am Rande von Lesungen mit jungen Leuten gesprochen, die solche Belastungen nicht haben aushalten müssen, weil sie in Friedenszeiten aufgewachsen sind. So wie Ihre Generation.
Ist das ein Vorwurf?
Nur die Benennung einer Tatsache. Was ich damit sagen will: In den Gesprächen mit jungen Leuten haben sich viele dann oft gefragt, wie viel Anpassung sie selbst in einer Demokratie vollzogen haben – opportunistische Verhaltensweisen im Berufsleben beispielweise. Und dann haben sich viele die Frage gestellt: Wie hätte ich mich unter stärkerem Druck in einer Diktatur verhalten?
Zurzeit wird wieder die große Erinnerungsmaschine angeworfen: Der 40. Jahrestag des Todes von Benno Ohnesorg, 30 Jahre Deutscher Herbst, im nächsten Jahr geht es dann richtig los, wenn 40 Jahre 68er Bewegung gewürdigt oder verdammt werden. Welchen Erkenntnisgewinn ziehen Sie aus diesen immer opulenteren Rückschauen?
Ich war für den Studentenprotest, gegen den Vietnamkrieg. Aber wenn man RAF und 68 diskutiert, dann müsste es doch mit so viel zeitlichem Abstand möglich sein, festzustellen, dass beispielsweise diese Eskalation, die zum Tod von Benno Ohnesorg geführt hat, ohne das Zutun der Springerpresse nicht denkbar gewesen wäre. Das habe ich damals in Berlin nun wirklich miterlebt.
Aber darüber ist doch so oft von allen Seiten diskutiert worden – zuletzt bei den Jahrestagen vor zehn Jahren. Sie selbst haben vor einem Jahr ein Streitgespräch mit Springer-Chef Mathias Döpfner geführt, über Ihren seit 40 Jahren andauernden Boykott gegenüber der Bild-Zeitung. Mein Eindruck ist: Selbst Herr Döpfner hat auf die Bild-Zeitung keinen Einfluss mehr, auch wenn er es wollte. Ich glaube, er nimmt das so hin. Das ist eben sein Kampfschiff. Immerhin: Das Gespräch mit ihm zu führen, war möglich. Über das Ende meines Boykotts ließe sich nachdenken, aber dann müsste sich die Bild erst mal bei der Böll-Familie für die Diffamierungen entschuldigen. Das ist bis heute nicht geschehen. Es blieb bei dem Gespräch. Was das Jahr 68 betrifft, muss man allerdings auch sagen, dass sich Dutschke und Springer in ihrer fundamentalistischen Rhetorik sehr ähnlich waren.
Und Sie standen zwischen diesen Polen.
Dutschke hat mich zum Feind Nummer eins erklärt. Ich war zwar gegen den Vietnamkrieg, weigerte mich aber Ho Ho Ho Chi Minh zu rufen. Das reichte denen nicht. Ich habe schon früh vor einem verbalen Radikalismus gewarnt, der zum Teil spielerische Elemente hatte. Was Teufel vor Gericht sagte, darüber konnte man noch lachen (Polit-Rebell und Kommune 1-Aktivist Fritz Teufel machte sich 1967 bei einem Prozess über die Richter und die politische Klasse lustig, Anm. der Red.). Aber die Grenzen verschwammen. Ich erinnere mich noch gut an einen Eklat um eine Aufführung in den Münchener Kammerspielen. Heinar Kipphardt war damals Dramaturg. Er inszenierte das Stück "Der Dra Dra" des russischen Autors Jewgeni Schwarz in einer Übersetzung von Biermann. In dem Programmheft dazu waren lauter Personen der Öffentlichkeit, Franz-Josef Strauß, aber auch der damalige Bürgermeister Münchens, Hans- Jochen Vogel, in der Anmutung von Terroristen-Steckbrieffotos abgebildet. Sozusagen als Drachen der Gesellschaft, dahinter verbarg sich eine verbale Finte. Die Botschaft war: Diese Leute müsse man beseitigen. Und dagegen habe ich einen Artikel geschrieben, der zu einer heftigen Kontroverse führte. Später bin ich mit meiner damaligen Frau Anna in die Schaubühne am Halleschen Ufer gegangen. Die Bühne war in den Zuschauerraum verlängert. Dann füllte sich plötzlich die Bühne mit Schauspielern, Garderobefrauen, Beleuchtern, alles war versammelt. Und ein Schauspieler, Dieter Laser, holte ein Papier aus der Tasche und las: "Im Zuschauerraum befindet sich der Schriftsteller Günter Grass, der unseren Genossen Kipphardt verraten hat." Er forderte mich auf, das Theater zu verlassen. Großer Beifall. Ich stand auf und sagte: "Das, was hier passiert, ist das letzte Mal 1933 hier in Berlin passiert."
Ein maßloser Vergleich.
Das fand ich nicht. 1933 hat man auch Leute aus dem Theater verbannt. Ich wollte das aber damals im Theatersaal nicht weiter kommentieren. "Meine Frau und ich haben Karten gekauft", sagte ich, "und wir sind jetzt gespannt auf das Stück." Wieder starker Beifall. Zum Teil klatschten die selben Leute, die vorher gegen mich waren.
Viel Feind, viel Ehr. Die Option, einfach zu gehen, haben Sie damals gar nicht erst in Erwägung gezogen?
Wenn es einem in solch einer Situation die Sprache verschlagen würde, könnte man in der Tat nur noch rauskriechen. Für mich war sofort klar: Ich muss darauf antworten.
Sie wollten das letzte Wort haben?
Ich wollte antworten. Doch diese Anekdote habe ich nur erzählt, um zu zeigen: Es gab verbale Gewalt und auch eine Bereitschaft, den nächsten Schritt zu gehen. Und davor habe ich gewarnt. Die RAF hat später gemordet. Es waren Morde, es gibt keinen anderen Ausdruck dafür.
Welche Lehren lassen sich aus dem Deutschen Herbst ziehen?
Wir haben heute wieder mit Terrorismus zu tun, und die Politik reagiert wie damals: Sie ist dabei, die Bürgerrechte, für die wir mühsam gekämpft haben, Stück für Stück zu verkleinern. Im Grunde hat die Politik nichts gelernt. In der Weltpolitik sieht es nicht anders aus: Die Amerikaner sind dabei, die Fehler von Vietnam im Irak zu wiederholen. Es ist erschreckend.
Reden wir noch über Ihre Lieblingspartei: die SPD. Auf die Frage, ob die Zeit der Sozialdemokratie vorbei sei, antworteten Sie 2003 in einem Spiegel-Interview: "Unsinn!" Inzwischen gräbt die Partei der Linken der SPD das Wasser ab. Sind Sie besorgt?
Zurzeit kann man sehen, wie absurderweise eine günstige Konjunktur die Schere zwischen Reich und Arm noch vergrößert. Die Sozialdemokratie muss sich wiederbeleben und auf ihre eigentlichen Aufgaben besinnen. So viele Jahre nach der deutschen Einheit hätte ich keine Bedenken, wenn die SPD eine Koalition mit der Links-Partei einginge – wenn es Lafontaine nicht gäbe. Den halte ich für einen Demagogen. Er stellt Gratis-Forderungen, die größtenteils nicht finanzierbar sind. Er scheut sich auch nicht, bis in das rechte Spektrum hinein nach Wählern Ausschau zu halten. Der ist nicht ungefährlich, weil er hochbegabt ist, immer gewesen ist. Als er Verantwortung hatte als Finanzminister, hat er jedoch gezeigt, dass er nicht kompromissfähig ist. Und das ist das schlechteste Zeugnis, das man einem Politiker ausstellen kann. Davon mal abgesehen ist es vielleicht ganz gut, dass sich unter dem Etikett Links etwas auftut und der sozialdemokratischen Partei Sorgen bereitet. Denn nun müssen sie sich anstrengen.
Hört die SPD heute noch auf den Trommler Günter Grass?
Ich bin Kurt Beck mehrmals begegnet, und er kennt meinen Standpunkt. Von meiner politischen Ansicht, von meinen Überzeugungen her bin ich ein Sozialdemokrat, auch wenn ich 1992 ausgetreten bin, weil unter Engholm der Asylparagraf geschwächt wurde.
Als Angela Merkel noch keine Kanzlerin war, wurde sie von Ihnen als Petzliese gescholten, weil sie als Oppositionspolitikerin bei Bush vorsprach und so Schröders Entscheidung, nicht am Irakkrieg teilzunehmen, diskreditierte. Wie sehen Sie die Staatschefin Merkel?
Gemessen an den Schwierigkeiten, die große Koalitionen mit sich bringen, macht sie ihre Sache gut. Sie setzt dabei sehr viel sozialdemokratische Reformpolitik um, ohne dass die Sozialdemokraten davon profitieren. Auf die Dauer kann das nicht gut gehen. Ich fand es honorig von ihr, dass sie kürzlich auch auf die Verdienste der rot-grünen Regierung hingewiesen hat. Denn Schröder hat das Fundament für die gute Konjunktur gelegt.
Herr Grass, jetzt haben wir fast zwei Stunden über Sie geredet. Was ist die größte Fehleinschätzung Ihrer Person?
Dass ich humorlos bin. Das kommt wohl daher, dass man meint, deutschsprachige Literatur sei per se humorfrei, weil immer tiefgründig. Diese Fehleinschätzung hat dazu geführt, dass ein wunderbarer Autor wie Jean Paul aus unserem kulturellen Gedächtnis verschwunden ist. Doch mich treibt nun am Ende unseres Gesprächs der mir verbliebene Humor an, mich wieder an die Manuskriptarbeit zu machen.
Interview: Martin Scholz
Zur Person
Der Schriftsteller und Grafiker
Günter Grass, geboren 1927 in Danzig, schrieb mit seinem Debüt "Die Blechtrommel" (1959) einen der wichtigsten deutschen Nachkriegsromane. Volker Schlöndorffs Verfilmung des Buches wurde 1980 mit einem Oscar ausgezeichnet. Die "Danziger Trilogie", die Grass mit der "Blechtrommel" begann, setzte er mit "Katz und Maus" (1961) und "Hundejahre" (1963) fort. Für sein Lebenswerk wurde er 1999 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Grass lebt in Lübeck.
Der Mahner und Moralist mischt sich immer wieder politisch ein, auch als Wahlkämpfer für die SPD. 1985 kritisierte er den Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof, weil dort auch SS-Angehörige beerdigt sind. Vor einem Jahr löste sein Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS in seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" eine Debatte über Grass‘ Glaubwürdigkeit als moralische Instanz aus.
Selbstbildnisse eines Dichters
Warum sich Günter Grass in Deutschland nicht erst seit seinem SS-Geständnis unfair behandelt fühlt und dennoch zuweilen lauthals die Nationalhymne singt, Lafontaine für einen Demagogen hält und sich an seinem Geburtstag gerne feiern lässt. Ein Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger, der am 16. Oktober 80 Jahre alt wird.
Herr Grass, Ihre Geburtsstadt richtet Ihnen schon jetzt, fast zwei Wochen vor Ihrem 80. Geburtstag am 16. Oktober, eine zweitägige Feier aus. Mit welchen Gefühlen fahren Sie nach Danzig?
Ich freue mich sehr darauf. Danzig ist meine Heimatstadt. Für die Menschen dort gehöre ich einfach zu den polnischen Literaturnobelpreisträgern dazu; sie sind stolz auf mich.
Als vor einem Jahr die Debatte um Ihre lange verschwiegene Zeit bei der Waffen-SS losbrach, gab es auch aus Polen harsche Reaktionen. Die Kaczynski-Brüder machten mit der Causa Grass Wahlkampf, Lech Walesa forderte zeitweilig, Sie sollten die Danziger Ehrenbürgerschaft zurückgeben...
... was er später zurückgenommen hat, nachdem ich einen persönlichen Brief an den Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz geschrieben hatte. Ich habe Adamowicz dafür bewundert, wie er sich in dem Streit vor mich gestellt hat. Zumal die Debatte von seinen Gegenspielern aus dem Umfeld der Kaczynskis politisch aufgeheizt worden war. Adamowicz hat das bravourös gemeistert. Aber nicht nur er, auch viele Schriftsteller und Intellektuelle aus Danzig und anderen Teilen Polens haben sich sehr gut verhalten.
Was meinen Sie mit "gut verhalten"?
Sie haben mich als Person in meiner Gesamtheit gesehen. Die Menschen in Polen wissen, dass ich über Jahrzehnte hinweg, vor allem während der Zeit des Kommunismus, dieses schwierige und schwierig bleibende Verhältnis zwischen Deutschen und Polen nicht zu harmonisieren versucht habe, sondern dass ich das Gespräch offen gehalten habe, was man in Deutschland zuletzt offenbar vergessen hatte.
Sie haben sich an Ihrem Geburtstag viel vorgenommen: Außer der Feier in Danzig richtet Ihnen Ihr Verlag am 20. Oktober eine große Party mit viel Prominenz in Göttingen aus. Dann wird es noch ein Familienfest geben. Andere Kollegen tauchen bei solchen Gelegenheiten lieber ab. Stehen Sie gerne im Mittelpunkt?
Ich tauche nicht ab. Ich habe nichts dagegen, wenn mein Verlag meint, das müsse man jetzt feiern. Runde und halbrunde Geburtstage habe ich schon immer im großen Kreis gefeiert. Diesmal jedoch wird es zunächst ein kleiner Kreis sein. Meine Kinder sind ja alle berufstätig, und da mein 80. Geburtstag auf einen Dienstag fällt, können die meisten nicht kommen. Den großen Familiengeburtstag feiern wir dann am Wochenende. Ich hoffe, dass wir viel tanzen werden. Ich tanze noch immer leidenschaftlich gerne und habe mir eine Dixieland-Band gewünscht; mal sehen, was daraus wird. Aber von meiner Familie kommen alle.
Acht Kinder und 15 Enkelkinder.
Inzwischen sind es 16 Enkelkinder. Sonst stimmt alles.
Sie sind seit langem mit Ihrer zweiten Frau Ute verheiratet , Ihre Groß-Familie ist fast ein soziales Kunststück, Patch-Work würde man auf Neudeutsch sagen. Wie haben Sie das alles zusammengehalten in den vergangenen Jahrzehnten?
Dass Ehen geschieden werden, kommt in den besten Familien vor. Dann kommt es darauf an, dass die beteiligten Erwachsenen, bei all den Gründen, die sie dazu bringen, nicht mehr zusammenzuleben, kein Gezerre zu Lasten der Kinder anstellen. So konnte das zusammenwachsen. Diese Art von Familiensinn habe ich auch meinen Kindern mitgeteilt. Sie sehen, meine Familiensituation ist nicht repräsentativ für jene Szenarien, die uns vor einer überalterten Gesellschaft warnen, in der es immer weniger Kinder gibt. Was ich übrigens schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt, 1980, in meinem Buch "Kopfgeburten" beschrieben habe: "Die Deutschen sterben aus", hieß es da. Und trotzdem gibt es heute Leute, die jetzt Methusalem-Debatten lostreten und so tun, als hätten sie das Phänomen erfunden.
Was für eine Art Vater waren Sie: streng oder Laissez-faire?
Ich glaube, dass ich meinen Kindern Toleranz nahegelegt und auch vorgelebt habe. Ich hoffe, ihren Blick für die sozialen Schieflagen in der Gesellschaft geschärft zu haben. Ich habe Ihnen vermittelt, nicht nur auf den eigenen Bauchnabel zu gucken, sondern sich selbst als Teil einer Gesellschaft zu begreifen. Ich bin allerdings kein Spielvater gewesen. Ich habe mich nicht zu ihnen auf den Boden gehockt und Eisenbahnen aufgebaut oder Ähnliches gemacht.
Einer Ihrer Söhne hat heftig gegen Sie rebelliert und Strauß- und Kohl-Wahlplakate im Haus aufgehängt. Das hat Ihre Toleranz vermutlich auf eine harte Probe gestellt.
Gar nicht. Es war mein jüngster Sohn Bruno. Ich habe ihm versichert: "Das kannst du alles machen. Du kannst die Plakate in deinem Zimmer aufhängen, sie meinetwegen auch an dein Fahrrad kleben, aber an den Fenstern in meinem Haus will ich sie nicht sehen."
Und das hat er ohne murren akzeptiert?
Er ist dann ein paar Jahre später zu den Jungsozialisten gegangen. Das sind Prozesse, die Väter und Söhne durchmachen müssen. Er war damals erst 13. Während der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr haben wir uns gemeinsam das Spiel Deutschland gegen Schweden in München angesehen. Als die Mannschaften sich aufstellten und die deutsche Nationalhymne gespielt wurde, habe ich laut mitgesungen, mein Sohn allerdings nicht. "Bruno, warum hast du denn nicht mitgesungen?", fragte ich ihn. "Das hast du uns nicht beigebracht", meinte er. Das war wohl mein Versäumnis.
In Ihrem Gedicht "Zugabe" heißt es: "Wir ahnen, dass demnächst, wenn nicht sogleich, Schluss ist, hoffen aber auf Zugabe bis zuletzt, so verzögert sich bis zuletzt allgemein und speziell unser Ende, das seit langem vordatiert im Kalender steht." Gibt das Ihr momentanes Lebensgefühl wieder?
Diese Verse mache ich mir auch heute noch zueigen. Aber nicht nur, wenn es um mich persönlich geht. Man müsste schon blind sein, um nicht zu sehen, auf welch unheilvolle und unbelehrbare Weise wir wider bessere Einsicht die eigenen Lebensgrundlagen zerstören und nichts Entscheidendes dagegen tun. Und so ist ein Ende abzusehen. Aber da ich davon ausgehe, dass wir uns selbst in diese Lage gebracht haben, können die Folgen dieser Umweltvernichtung auch durch Menschen gemindert, zumindest herausgezögert werden. Das ist für mich Antrieb genug, auch weiter politisch tätig zu sein.
Sie könnten ja Ihr frühes absurdes Theaterstück "Hochwasser" aus dem Jahr 1957 wiederaufführen, das würde gut zu der gegenwärtigen Debatte über die Klima-Katastrophe passen.
Das ist lange her. Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Aber es stimmt, "Hochwasser" greift das Element des Bedrängtwerdens auf: Das Wasser steigt, die Menschen flüchten sich auf den Dachboden, sie sind keine Handelnden im klassischen Sinn.
Der renommierte britische Theaterwissenschaftler Martin Esslin hat Sie und Wolfgang Hildesheimer seinerzeit als einzige Deutsche in seinen Kanon der Autoren des absurden Theaters aufgenommen. In Deutschland wurden diese Arbeiten kaum wahrgenommen. Verletzt Sie das?
In meiner Wahrnehmung kommen sie schon vor. Ich kann wenig dazu sagen, wenn andere es nicht so sehen. "Hochwasser" wird ab und zu noch im Ausland aufgeführt, meistens machen das Schüler. Aber das etablierte Theater in Deutschland nimmt davon schon lange keine Kenntnis mehr. Es war auch nicht so, dass ich mich während meiner Zeit in Paris mit Beckett oder Ionesco intensiv beschäftigt hätte. Ich steckte selbst so drin in der Thematik, als ich meine Stücke schrieb. In Deutschland hat man mich später als eine Art Epigonen des absurden Theaters dargestellt, Hildesheimer übrigens auch. Das mag sicher auch ein Grund dafür sein, dass diese Stücke damals fast nur auf Studentenbühnen gespielt wurden. Irgendwann kam dann das Regietheater, das von einem Autor eigentlich nur noch Libretti erwartete, mit denen Regisseure nach Belieben verfahren konnten. Da habe ich dann aufgehört, fürs Theater zu schreiben.
Es gibt viele Facetten in Ihrer Vita, die in der öffentlichen Wahrnehmung heute keine Rolle mehr spielen, der Autor des absurden Theaters ist eine davon. Eine andere ist die des literarischen Welt-Stars, des einzigen, den Deutschland zurzeit vorweisen kann. Um die Grass-Rezeption im Ausland macht man hierzulande nicht viel Aufhebens. Ärgert Sie das?
Das ist nun mal so, und ich habe mich daran gewöhnt. Das Schöne ist, dass ich in vielen Ländern ganz anders wahrgenommen werde. In Südamerika beispielsweise wird "Die Blechtrommel" als eine Art Vorläufer von "100 Jahre Einsamkeit" von Marquez gesehen. Dort ordnet man mich dem magischen Realismus zu. Die sehen in mir einen Verwandten, einen Vorvater ihrer eigenen Literatur.
Dass Ihr Debüt "Die Blechtrommel" in den 50er Jahren gleich einen US-amerikanischen Verleger fand, ist genauso kurios.
Im Sommer 1959 hatte ich einen Brief des legendären Verlegers Kurt Wolff aus New York erhalten. Er wollte mich in einem Hotel in Zürich sprechen, in einem großbürgerlichen Schuppen. So was hatte ich bis dahin noch nie von innen gesehen. Er kam mir in der Hotelhalle entgegen, ein hochgewachsener Gentleman, neben ihm eine Person, die ich für seine Sekretärin hielt. Es war seine Frau, Helen Wolff. "Ich spiele mit dem Gedanken, Ihr Manuskript in Amerika zu veröffentlichen", sagte er mir, "werden die amerikanischen Leser das verstehen?" Ich antwortete: "Das glaube ich nicht. Das Buch spielt in der Provinz, nicht mal in Danzig, in einem Vorort von Danzig. Es kommt viel Umgangsdeutsch darin vor. Es ist ganz auf die Provinz konzentriert." "Sie müssen gar nichts mehr sagen", unterbrach er mich, "alle große Literatur wurzelt in der Provinz. Ich bringe Ihr Buch in Amerika heraus." Der Roman ist dann bei Random House erschienen.
Was Sie an Amerika nicht mögen, wissen wir: die Arroganz, den Raubtierkapitalismus, die Unfähigkeit zu lernen. Was lieben Sie an Amerika?
Mein Verhältnis zu Amerika war immer ambivalent. Zum einen schätze ich diesen unkomplizierten Umgang mit Menschen. Nur ist diese Offenheit immer auch mit einer gewissen Naivität verbunden. Selbst Leute aus der gebildeten, liberalen Schicht sind oft sehr Amerika-zentriert und haben wenig Ahnung vom weit größeren Rest der Welt – dafür aber ein amerikanisches Selbstverständnis, das sie für mustergültig halten. Als sei dies das Modell, das die Welt gefälligst übernehmen sollte: the American way of life. Das kann in Krisensituationen, wie wir sie heute erleben, ein furioses und folgenreiches Scheitern zur Folge haben. Hervorgerufen aus einer Mischung aus Unkenntnis und gutem Willen – good will und no understanding.
Sie haben kürzlich in New York aus der Übersetzung Ihrer in Deutschland umstrittenen Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" gelesen und sich dort den Fragen der amerikanischen Journalisten gestellt. Waren Sie angespannt in Erwartung weiterer bohrender Fragen?
Nein. Die amerikanischen Journalisten waren gut informiert, hatten alles gelesen. Es gibt da einen grundsätzlichen Unterschied zu Deutschland: In der amerikanischen und angelsächsischen Literaturkritik ist man sich nie zu schade, dem Leser zunächst einmal mitzuteilen, worum es im Buch geht. Beim deutschen Feuilleton habe ich oft den Eindruck, dass es für sich selbst schreibt. Man will die Kollegen beeindrucken, oder es steht im Vordergrund, was sich der Rezensent vom Autor erwartet. Erfüllt er die Erwartungen, ist es in Ordnung. Erfüllt er sie nicht, ist die Reaktion entsprechend. Das ist in der angelsächsischen Literaturkritik anders: Da geht man von dem aus, was der Autor erreichen wollte, und überprüft dann, ob er das erreicht hat – danach richtet sich dann die Kritik. Das habe ich auch bei meinem jüngsten Besuch in New York wieder erlebt, in den Kritiken, aber auch in den Gesprächen mit der Washington Post und anderen. Diese Journalisten waren sehr gut informiert und haben sich wenig um das gekümmert, was im vergangenen Jahr in Deutschland über mich geschrieben wurde. Die sind von dem Buch ausgegangen.
Wie haben Ihre Leser in New York reagiert?
Sie waren offen und interessiert. Auch da spielte die moralische Debatte aus Deutschland kaum eine Rolle. Mein Verleger hatte eine dieser längeren Limousinen gemietet, wir hatten einen schwarzen Fahrer, der muss so Mitte 20 gewesen sein. Er sagte mir, er habe in der Schule "Katz und Maus" gelesen. Einige Bücher von mir gehören in den USA nach wie vor zur College-Allgemeinbildung.
Das klingt schon so, als wären Sie gekränkt und beleidigt darüber, wie man in Deutschland mit Ihnen umgeht. Fühlen Sie sich in den USA freier, besser verstanden?
Nicht nur in den USA, überhaupt im Ausland. Weil ich dort etwas erfahre, was im Umgang mit mir in Deutschland Mangelware geworden ist: Respekt gegenüber dem Werk, das in fünf, sechs Jahrzehnten entstanden ist – ganz gleich, wie man inhaltlich zu mir steht. Ich muss allerdings zugeben: Ich bin diesmal mit einer gewissen Melancholie aus den USA zurückgekommen. Weil ich vieles von dem, was mich früher an dem Land begeistert hat, nicht mehr vorgefunden habe.
Was meinen Sie damit?
Ich habe vieles in meinem politischen Verhalten aus Amerika übernommen. Mir hat immer imponiert, wie junge Leute, wenn Wahlen anstanden, ihr Studium beiseite geschoben haben und sich – meistens für demokratische – Kandidaten engagierten. Was ich später als Wählerinitiative in Deutschland gemacht habe, ist auf amerikanischem Mist gewachsen. Dieses Sich-als-Bürger-politisch-Einbringen habe ich mir in den USA abgeguckt. Heute dagegen scheinen mir in Amerika viele resigniert. Sie schimpfen über den spürbaren Prestigeverlust ihres Landes, der in der langen Bush-Ära entstanden ist. Es wird so hingenommen, es herrscht allgemeine Ratlosigkeit.
Sie sind oft in Amerika gewesen, 1966 gab es ein Treffen der Gruppe 47 in Princeton, bei dem viele deutsche Kollegen gegen das Gastgeberland und den Vietnamkrieg wetterten. Bis Sie selbst zum Mikrofon gingen und sich aufregten, dass jetzt alle Angst hätten, zu unterhaltsam zu sein. Das passt nun gar nicht zum Bild des bierernsten Moralisten Grass. Waren Sie damals ein anderer?
Nein. Ich war gegen den Vietnamkrieg, habe das offen ausgesprochen. Aber in den USA waren an den Universitäten sowieso alle gegen den Vietnamkrieg. Es bestand also kein Anlass, dass deutsche Autoren den Amerikanern eintrichterten, gegen den Vietnamkrieg zu sein. Ich fand diese Attitüde meiner deutschen Kollegen wenig komisch.
Es fällt trotzdem schwer, sich das heute vorzustellen: In einer Zeit, da sich der Think Tank der deutschen Literatur als kollektives Weltverbessererforum sieht, steht ausgerechnet Günter Grass auf und sagt: "Wo bleibt die Unterhaltung?"
Ich verstehe Ihre Irritation nicht. Denn so denke ich auch heute noch. Die Kunst folgt anderen Gesetzen als die Politik. In der Politik leben wir vom Kompromiss. Er ist die Grundvoraussetzung, um überhaupt überleben zu können in einer so zankwütigen und bis an die Zähne bewaffneten Welt. Das Gedicht kennt keinen Kompromiss. Der letzte Satz meiner Rede hieß: "Wer diese Spannung tätig aushält, ist ein Narr und ändert die Welt."
Ihr Freund, der US-Schriftsteller John Irving, hat mal ein Buch über den Vietnamkrieg geschrieben: Owen Meany, der Titelheld seines Romans, hat dieselben Initialen wie Oskar Matzerath. Im "Hotel New Hampshire" gibt es eine Tochter, die sich wie Matzerath weigert zu wachsen. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie zum ersten Mal diese Passagen lasen?
Ich dachte nur: Was für ein begabter Schüler. Er ist ja nicht der Einzige, Salman Rushdie zählt auch dazu. In "Mitternachtskinder" und "Schande" gibt es viele Anspielungen auf "Hundejahre" Und beide bekennen sich dazu.
Bekennen ist eine nette Untertreibung. Im "Hotel New Hampshire" lässt Irving seine Romanhelden mehrmals sagen, "Die Blechtrommel" sei der beste Roman überhaupt.
Ich bin äußerst skeptisch Autoren gegenüber, die so tun, als seien sie vom Himmel gefallen. Wir haben alle Lehrer gehabt, die wir uns selbst gesucht haben, an denen wir uns reiben, von denen wir übernehmen. Das sollte man dann auch sagen. So kenne ich es aus der Bildenden Kunst. Dort ist die Neigung, den Lehrer zu verleugnen, jedenfalls nicht so ausgeprägt wie in der Literatur.
Philip Roth ist ein weiterer US-Kollege, der Sie schätzt. Er erzählte uns von einem Treffen mit Ihnen an der Uni von Pennsylvania. Was hatten Sie sich zu sagen?
Ich schätze Roth sehr. "Portnoys Beschwerden" ist einfach wunderbar. Dieses Treffen mit ihm liegt schon zu lange zurück, ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich hatte zu einigen amerikanischen Autoren Kontakt. Mit Kurt Vonnegut war ich befreundet. Kurz vor seinem Tod hat er noch ein Interview gegeben, mit dem ihm eigenen Humor. Er war damals 85 und sagte: Er wolle gegen die amerikanische Tabakindustrie prozessieren, weil die ihm jahrelang versprochen hatte, Rauchen sei tödlich – und das sei nicht eingetreten. Ich fand das wunderbar – als Raucher darf ich das ja sagen.
In Philip Roths "Jedermann" stöhnt der Held: "Das Alter ist kein Kampf, das Alter ist ein Massaker."
Dem würde ich widersprechen. Aber wir sollten nicht Dichtung und Wahrheit verwechseln. Roth und ich, wir sind beide privilegiert, weil es in unserem Beruf kein Pensions- und kein Rentenalter gibt. Und offensichtlich fällt uns immer noch was ein. Auch wenn es Leute gibt, die sich darüber ärgern, dass wir noch schreiben, dass wir überhaupt noch da sind.
Sie spielen vermutlich auf TV-Kritikerin Elke Heidenreich an. Die zürnte: "Walser und Grass sind eitle alte Männer, die nicht den Mund halten könnten."
Was unterm Niveau ist, will ich nicht weiter kommentieren. Aber Tatsache bleibt, dass die Generation der 1926, 1927 Geborenen – zu der Lenz, Walser, Enzensberger und Rühmkorf, Christa Wolf und Erich Loest gehören – noch aktiv ist.
Sind Sie ein Platzhirsch, Herr Grass?
Das ist auch so eine Medien-Projektion. Ich treffe mich doch immer wieder mal mit jüngeren Kollegen wie Matthias Politycki oder Burkhard Spinnen. Wir lesen aus unseren Fragmenten vor, stellen uns der Kritik. Es ist nicht so, dass ich da als Platzhirsch mein Revier markieren würde. Ich gehöre einfach zu dieser Gruppe. Der Jüngste ist Benjamin Lebert.
Dem als 16-Jährigem gleich mit seinem Debüt-Roman "Crazy" ein Bestseller gelang.
Ja. Es war interessant zu beobachten, wie dieser junge Autor, sicher auch mit Hilfe des Managements seines Vaters oder von wem auch immer, diese wahnsinnigen Vorschüsse bei seinem Verlag aushandeln konnte. Die Erwartungen waren dann allerdings ebenfalls sehr hoch. Aber ich bin beeindruckt, wie tapfer er sich hält in dieser Situation. Ich habe ihn sehr früh kennen gelernt und ihm zum Umgang mit Verlegern den einen oder anderen Rat geben können.
Kommt es vor, dass Ihnen junge Autoren auch mal die Meinung sagen: Herr Grass, der Einstieg Ihres neuen Buchs ist misslungen?
Wir diskutieren viel und angeregt. Diese Treffen befriedigen meine Neugierde. Mich interessiert, woran sie arbeiten, mit welchen Widerständen sie zu kämpfen haben oder welche Widerstände ihnen fehlen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass einige Autoren zu viel auf Lesereise gehen. Und manchmal frage ich mich: Wann schreiben sie eigentlich ihre Bücher? Aber das hat auch damit zu tun, dass die Zahl der Veröffentlichungen zwar steigt, aber die Auflagen klein sind. Viele leben von den Lesungen. Ich will das nicht schelten, sie brauchen das, aber es ist nicht gut für die Literatur.
Und wie reagieren die Jungen, wenn der große Grass ihre Art von Geschäftigkeit kritisiert?Viele von ihnen sehen das ähnlich, sagen mir aber: "Wenn wir das nicht machen, kommen wir nicht über die Runden."Juli Zeh, eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Autorinnen, hat Sie in der Debatte um Ihre lange verschwiegene Vergangenheit in der Waffen-SS auf ungewohnte Weise verteidigt. Der Eklat war für sie ein sekundäres Medienspektakel...
...das war es ja auch.
Sie hat auch gesagt: "Grass ist für mich keine moralische Instanz, schon gar nicht der Papst von Deutschland, sondern eine Symbolfigur für den Gesinnungswandel in Deutschland." Sie hat Sie verteidigt, indem sie Sie vom Sockel stürzte.
Ich habe das nicht so empfunden wie Sie. Weil ich mich selbst nie auf diesen Sockel gestellt habe. All diese Titel: "Gewissen der Nation" und so weiter, sind mir von den Feuilletons oder von wem auch immer angehängt worden. Das war schon zu Bölls Zeiten Unsinn, mit ihm haben sie es ähnlich gemacht. Aber gegen so etwas ist kein Kraut gewachsen.
Wenn Sie sich den Eklat um Ihre verschwiegene Zeit in der Waffen-SS aus der Distanz eines Jahres ansehen: Würden Sie heute etwas anders machen?
Ich würde mich nicht mehr mit der FAZ einlassen. Das ist sicher. Aber darüber will ich nicht mehr reden. Es war anstrengend und verletzend.
Aber Sie hatten doch viele namhafte Fürsprecher: Irving, Rushdie, Norman Mailer.
Adolf Muschg sprach für mich, auch Kollegen, mit denen ich in politischen Dingen nicht immer übereinstimme. Ralph Giordano beispielsweise hat sich für mich ausgesprochen. Das hat mir geholfen.
1979 hatten Sie sich in einem Aufsatz die Frage gestellt "Wie sagen wir es unseren Kindern"…
…damals schrieb ich das "Tagebuch einer Schnecke". Mich beschäftigte, wie wir Auschwitz unseren Kindern erklären konnten, diese in die Millionen gehende Zahl von Toten, die so abstrakt sind, dass es schwer zu erklären ist. Deshalb habe ich im "Tagebuch einer Schnecke" parallel zur Gegenwartsgeschichte über einen laufenden Wahlkampf die Geschichte der Danziger Synagogen-Gemeinde erzählt. Ich habe versucht, das Unerklärliche an diesem überschaubaren Beispiel deutlich zu machen.
Wie haben Ihre Kinder, wie hat Ihre Familie im vergangenen Jahr reagiert, als Sie nach mehr als 60 Jahren über Ihre Vergangenheit bei der Waffen-SS berichteten?
Die waren einfach fabelhaft. Meine Familie bis hin zu den Schwiegertöchtern stand mir bei und hat mir – sei es mit Briefen, sei es mit kräftigen Umarmungen – geholfen, die Nachwirkungen von Niedertracht und Häme zu mildern.
Einige Kritiker wie Louis Begley fanden die Gründe für Ihr langes Schweigen nicht überzeugend, andere vermissten so etwas wie Reue und Scham. Ähnliche Kategorien wurden auch in einem ganz anderen Kontext eingefordert, als es um die Gnadengesuche des RAF-Mitglieds Christan Klar ging.
Es ist wie früher in kommunistischen Parteien oder in religiösen Sekten, wo so etwas wie öffentliche Selbstanklage erwartet wird. Dass man aufsteht und seine Sünden bekennt. Eine Demokratie, die Selbstbewusstsein hat, sollte auch Großzügigkeit offenbaren. Ich will das jetzt nicht auf mich selbst beziehen. Ich habe das alles überstanden, es ist gut jetzt. Es geht dabei um einen grundsätzlichen Wert. Ein Beispiel: Als das kommunistische System der DDR in sich zusammenbrach und mit ihm in ganz Europa der Eiserne Vorhang fiel, war das ein Wunder, weil es ohne Schüsse passierte. Und dennoch hatte später kein einziger westdeutscher Politiker die Großzügigkeit, sich bei der Leitung der Volkspolizei und der Volksarmee zu bedanken. Stattdessen gibt es eher die Bereitschaft, auf jemanden, der am Boden liegt, noch mal draufzutreten. Mir persönlich hat geholfen, dass ich in dieser für mich bedrückenden Zeit nicht das getan habe, was vielleicht erwartet wurde. Ich bin nicht verstummt, habe die Ereignisse des vergangenen Jahres in Gedichten für den Band "Dummer August" verarbeitet und Zeichnungen dazu gemacht. Das war hilfreich.
In der Lyrik-Sammlung wehren Sie sich in Versform gegen Ihre Kritiker, schreiben trotzig: "Makel verpflichtet." Wozu?
So ist es mein ganzes Leben lang gewesen. Wie viele meiner Generation bin ich gezeichnet von diesen zwölf Jahren des Nationalsozialimus, der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Einer Zeit, die mich und viele andere als dumm, unwissend und borniert entlassen hat. Die Zeit nach dem Krieg war ein mühsamer Lernprozess für mich, der sich über Jahre hingezogen hat. Bis mir der Grad der Verblendung deutlich wurde. Man kann sich leicht aufs Alter herausreden: Ich war bei Kriegsende 17 Jahre alt. Beim Häuten der Zwiebel stellte sich heraus, dass ich mit 14, 15, 16, 17 Jahren in bestimmten Situationen nicht die Fragen gestellt habe, die ich hätte stellen müssen oder stellen können. Das ist zwar keine tätige Mitschuld an etwas, aber Schuld, die aus Unterlassung entsteht. Ich habe am Rande von Lesungen mit jungen Leuten gesprochen, die solche Belastungen nicht haben aushalten müssen, weil sie in Friedenszeiten aufgewachsen sind. So wie Ihre Generation.
Ist das ein Vorwurf?
Nur die Benennung einer Tatsache. Was ich damit sagen will: In den Gesprächen mit jungen Leuten haben sich viele dann oft gefragt, wie viel Anpassung sie selbst in einer Demokratie vollzogen haben – opportunistische Verhaltensweisen im Berufsleben beispielweise. Und dann haben sich viele die Frage gestellt: Wie hätte ich mich unter stärkerem Druck in einer Diktatur verhalten?
Zurzeit wird wieder die große Erinnerungsmaschine angeworfen: Der 40. Jahrestag des Todes von Benno Ohnesorg, 30 Jahre Deutscher Herbst, im nächsten Jahr geht es dann richtig los, wenn 40 Jahre 68er Bewegung gewürdigt oder verdammt werden. Welchen Erkenntnisgewinn ziehen Sie aus diesen immer opulenteren Rückschauen?
Ich war für den Studentenprotest, gegen den Vietnamkrieg. Aber wenn man RAF und 68 diskutiert, dann müsste es doch mit so viel zeitlichem Abstand möglich sein, festzustellen, dass beispielsweise diese Eskalation, die zum Tod von Benno Ohnesorg geführt hat, ohne das Zutun der Springerpresse nicht denkbar gewesen wäre. Das habe ich damals in Berlin nun wirklich miterlebt.
Aber darüber ist doch so oft von allen Seiten diskutiert worden – zuletzt bei den Jahrestagen vor zehn Jahren. Sie selbst haben vor einem Jahr ein Streitgespräch mit Springer-Chef Mathias Döpfner geführt, über Ihren seit 40 Jahren andauernden Boykott gegenüber der Bild-Zeitung. Mein Eindruck ist: Selbst Herr Döpfner hat auf die Bild-Zeitung keinen Einfluss mehr, auch wenn er es wollte. Ich glaube, er nimmt das so hin. Das ist eben sein Kampfschiff. Immerhin: Das Gespräch mit ihm zu führen, war möglich. Über das Ende meines Boykotts ließe sich nachdenken, aber dann müsste sich die Bild erst mal bei der Böll-Familie für die Diffamierungen entschuldigen. Das ist bis heute nicht geschehen. Es blieb bei dem Gespräch. Was das Jahr 68 betrifft, muss man allerdings auch sagen, dass sich Dutschke und Springer in ihrer fundamentalistischen Rhetorik sehr ähnlich waren.
Und Sie standen zwischen diesen Polen.
Dutschke hat mich zum Feind Nummer eins erklärt. Ich war zwar gegen den Vietnamkrieg, weigerte mich aber Ho Ho Ho Chi Minh zu rufen. Das reichte denen nicht. Ich habe schon früh vor einem verbalen Radikalismus gewarnt, der zum Teil spielerische Elemente hatte. Was Teufel vor Gericht sagte, darüber konnte man noch lachen (Polit-Rebell und Kommune 1-Aktivist Fritz Teufel machte sich 1967 bei einem Prozess über die Richter und die politische Klasse lustig, Anm. der Red.). Aber die Grenzen verschwammen. Ich erinnere mich noch gut an einen Eklat um eine Aufführung in den Münchener Kammerspielen. Heinar Kipphardt war damals Dramaturg. Er inszenierte das Stück "Der Dra Dra" des russischen Autors Jewgeni Schwarz in einer Übersetzung von Biermann. In dem Programmheft dazu waren lauter Personen der Öffentlichkeit, Franz-Josef Strauß, aber auch der damalige Bürgermeister Münchens, Hans- Jochen Vogel, in der Anmutung von Terroristen-Steckbrieffotos abgebildet. Sozusagen als Drachen der Gesellschaft, dahinter verbarg sich eine verbale Finte. Die Botschaft war: Diese Leute müsse man beseitigen. Und dagegen habe ich einen Artikel geschrieben, der zu einer heftigen Kontroverse führte. Später bin ich mit meiner damaligen Frau Anna in die Schaubühne am Halleschen Ufer gegangen. Die Bühne war in den Zuschauerraum verlängert. Dann füllte sich plötzlich die Bühne mit Schauspielern, Garderobefrauen, Beleuchtern, alles war versammelt. Und ein Schauspieler, Dieter Laser, holte ein Papier aus der Tasche und las: "Im Zuschauerraum befindet sich der Schriftsteller Günter Grass, der unseren Genossen Kipphardt verraten hat." Er forderte mich auf, das Theater zu verlassen. Großer Beifall. Ich stand auf und sagte: "Das, was hier passiert, ist das letzte Mal 1933 hier in Berlin passiert."
Ein maßloser Vergleich.
Das fand ich nicht. 1933 hat man auch Leute aus dem Theater verbannt. Ich wollte das aber damals im Theatersaal nicht weiter kommentieren. "Meine Frau und ich haben Karten gekauft", sagte ich, "und wir sind jetzt gespannt auf das Stück." Wieder starker Beifall. Zum Teil klatschten die selben Leute, die vorher gegen mich waren.
Viel Feind, viel Ehr. Die Option, einfach zu gehen, haben Sie damals gar nicht erst in Erwägung gezogen?
Wenn es einem in solch einer Situation die Sprache verschlagen würde, könnte man in der Tat nur noch rauskriechen. Für mich war sofort klar: Ich muss darauf antworten.
Sie wollten das letzte Wort haben?
Ich wollte antworten. Doch diese Anekdote habe ich nur erzählt, um zu zeigen: Es gab verbale Gewalt und auch eine Bereitschaft, den nächsten Schritt zu gehen. Und davor habe ich gewarnt. Die RAF hat später gemordet. Es waren Morde, es gibt keinen anderen Ausdruck dafür.
Welche Lehren lassen sich aus dem Deutschen Herbst ziehen?
Wir haben heute wieder mit Terrorismus zu tun, und die Politik reagiert wie damals: Sie ist dabei, die Bürgerrechte, für die wir mühsam gekämpft haben, Stück für Stück zu verkleinern. Im Grunde hat die Politik nichts gelernt. In der Weltpolitik sieht es nicht anders aus: Die Amerikaner sind dabei, die Fehler von Vietnam im Irak zu wiederholen. Es ist erschreckend.
Reden wir noch über Ihre Lieblingspartei: die SPD. Auf die Frage, ob die Zeit der Sozialdemokratie vorbei sei, antworteten Sie 2003 in einem Spiegel-Interview: "Unsinn!" Inzwischen gräbt die Partei der Linken der SPD das Wasser ab. Sind Sie besorgt?
Zurzeit kann man sehen, wie absurderweise eine günstige Konjunktur die Schere zwischen Reich und Arm noch vergrößert. Die Sozialdemokratie muss sich wiederbeleben und auf ihre eigentlichen Aufgaben besinnen. So viele Jahre nach der deutschen Einheit hätte ich keine Bedenken, wenn die SPD eine Koalition mit der Links-Partei einginge – wenn es Lafontaine nicht gäbe. Den halte ich für einen Demagogen. Er stellt Gratis-Forderungen, die größtenteils nicht finanzierbar sind. Er scheut sich auch nicht, bis in das rechte Spektrum hinein nach Wählern Ausschau zu halten. Der ist nicht ungefährlich, weil er hochbegabt ist, immer gewesen ist. Als er Verantwortung hatte als Finanzminister, hat er jedoch gezeigt, dass er nicht kompromissfähig ist. Und das ist das schlechteste Zeugnis, das man einem Politiker ausstellen kann. Davon mal abgesehen ist es vielleicht ganz gut, dass sich unter dem Etikett Links etwas auftut und der sozialdemokratischen Partei Sorgen bereitet. Denn nun müssen sie sich anstrengen.
Hört die SPD heute noch auf den Trommler Günter Grass?
Ich bin Kurt Beck mehrmals begegnet, und er kennt meinen Standpunkt. Von meiner politischen Ansicht, von meinen Überzeugungen her bin ich ein Sozialdemokrat, auch wenn ich 1992 ausgetreten bin, weil unter Engholm der Asylparagraf geschwächt wurde.
Als Angela Merkel noch keine Kanzlerin war, wurde sie von Ihnen als Petzliese gescholten, weil sie als Oppositionspolitikerin bei Bush vorsprach und so Schröders Entscheidung, nicht am Irakkrieg teilzunehmen, diskreditierte. Wie sehen Sie die Staatschefin Merkel?
Gemessen an den Schwierigkeiten, die große Koalitionen mit sich bringen, macht sie ihre Sache gut. Sie setzt dabei sehr viel sozialdemokratische Reformpolitik um, ohne dass die Sozialdemokraten davon profitieren. Auf die Dauer kann das nicht gut gehen. Ich fand es honorig von ihr, dass sie kürzlich auch auf die Verdienste der rot-grünen Regierung hingewiesen hat. Denn Schröder hat das Fundament für die gute Konjunktur gelegt.
Herr Grass, jetzt haben wir fast zwei Stunden über Sie geredet. Was ist die größte Fehleinschätzung Ihrer Person?
Dass ich humorlos bin. Das kommt wohl daher, dass man meint, deutschsprachige Literatur sei per se humorfrei, weil immer tiefgründig. Diese Fehleinschätzung hat dazu geführt, dass ein wunderbarer Autor wie Jean Paul aus unserem kulturellen Gedächtnis verschwunden ist. Doch mich treibt nun am Ende unseres Gesprächs der mir verbliebene Humor an, mich wieder an die Manuskriptarbeit zu machen.
Interview: Martin Scholz
Zur Person
Der Schriftsteller und Grafiker
Günter Grass, geboren 1927 in Danzig, schrieb mit seinem Debüt "Die Blechtrommel" (1959) einen der wichtigsten deutschen Nachkriegsromane. Volker Schlöndorffs Verfilmung des Buches wurde 1980 mit einem Oscar ausgezeichnet. Die "Danziger Trilogie", die Grass mit der "Blechtrommel" begann, setzte er mit "Katz und Maus" (1961) und "Hundejahre" (1963) fort. Für sein Lebenswerk wurde er 1999 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Grass lebt in Lübeck.
Der Mahner und Moralist mischt sich immer wieder politisch ein, auch als Wahlkämpfer für die SPD. 1985 kritisierte er den Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof, weil dort auch SS-Angehörige beerdigt sind. Vor einem Jahr löste sein Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS in seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" eine Debatte über Grass‘ Glaubwürdigkeit als moralische Instanz aus.
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