WELTCHRONIK (Berliner Zeitung)
WELTCHRONIK
Felix Stephan
Eigentlich müsste es einen Kalender mit Aphorismen des Schriftstellers Jochen Schmidt geben. Jeder Tag begänne mit einem hübschen Spruch: "Wenn Autoren klug sein wollen, es aber nicht sind, sollten sie wenigstens ehrlich sein. Dann wären ihre Bücher auch interessant." Oder: "Es ist vermessen, ein Glück außerhalb des Schreibens zu suchen, wenn man schon eines innerhalb gefunden hat. Wieso verlange ich eigentlich noch, dass mich irgendetwas anderes glücklich macht?"
In seinem Proust-Blog, der gerade ausgelaufen ist und voraussichtlich im Frühjahr 2008 als Buch erscheint, wollte der Schriftsteller zeigen, dass "auch im eigenen Leben Zeit vergeht, während man Proust liest." In seiner neuen - ja was eigentlich? - Show "Die Weltchronik" will er mit seinem Kollegen Falko Hennig zeigen, dass überhaupt Zeit vergeht. Das klingt putzig, häufig liegt aber gerade in der Reduktion das Ausschweifende. Je weniger man sagt, desto mehr erzählt man - wenn man es denn kann. Am berühmtesten ist damit der Ire Samuel Beckett geworden.
"Die Weltchronik" hatte am Mittwoch im Kino Babylon Premiere. Schmidt und Hennig beauftragen jeden Monat einen - wie soll man sagen? - Star, 30 Tage seines Lebens zu dokumentieren. Ob da etwas passiert oder nicht. "Die Weltchronik" zeigt: Es passiert immer was.
Zur Premiere erschien Mark Benecke, ein berühmter Kriminalbiologe, der an den Insekten auf einer Leiche erkennt, seit wann sie da liegt. Oder der zwölf Jahre nach einer Tat beweist, dass das Opfer von vorn erschossen wurde statt von hinten. Die Spiegelscherben am Tatort seien schließlich in das Blut gefallen, nicht andersrum. Der Playboy hat ihn schon interviewt; Qvest, Neon und die Süddeutsche auch. Er hört Rammstein, schult Polizisten in der ganzen Welt und unterrichtet an ungefähr vierhundert Universitäten. Und er hat Fans: Im Foyer quieken Mutter und Tochter einer mutmaßlichen Arztfamilie, als sie sich mit ihm fotografieren lassen.
Überhaupt hat dieses Filmkunsthaus wahrscheinlich selten so ein klassisch berufstätiges Publikum gesehen, es wirkt ein bisschen wie ein Forensiker-Betriebsausflug. Ist es wahrscheinlich auch: "Wie viele Plätze müssen wir freihalten?" - "Weiß nicht genau. Wir sind, glaub' ich, zwölf."
Auf der Bühne gilt das inszenatorische Lesebühnenprinzip, denn da kommen die beiden Gastgeber her: Sie kündigen an, die vergehende Zeit für die Nachwelt zu archivieren, und dann funktioniert nur eins von drei Mikros. Und zwar immer ein anderes. Falko Hennig schlägt vor, das als Slapstick einzubauen, das geht dann aber ganz von selbst. Die Lichttechnik bestand zwar nur aus einer staubigen Stehlampe, trotzdem stolperte ständig jemand über ein Kabel. Diese Unbekümmertheit ist von Anfang an das komische Prinzip, doch das merken nicht alle: "Das hätten die mal proben sollen", findet einer, der vor Beginn erzählt hat, dass er mal in New York in einer Loge saß. Punkt acht ist auch was los bei ihm: "Na! Jetzt könnten wir aber."
"Die Weltchronik" hat keinen Anfang und kein Ende, sie hat überhaupt keine Form. Es gibt sie als Prosa, als Stichpunkt, als Live-Video, als digitales Foto und als Dia. Sie ist eine freundliche und hinterlistige Überreizung, man sieht nur Schnipsel, aber was ist die Welt auch sonst? Gleichzeitig Luhmanns Zettelkasten und ein 10 000-Seiten-Roman. Erklärungsbedürftig wie der Künstler Jonathan Meese, aber nicht so laut und so feucht.
Niemand ist hier wirklich am richtigen Ort, trotzdem sind alle hier und kommen nach der Pause auch wieder zurück. Ein Vertreter des Sponsors erklärt gut frisiert sein Produkt, jetzt ist auch das Business an seinem gefühlten Platz, merkt aber kaum einer.
Das Publikum hat jetzt aufgegeben, es lacht nur noch. Gibt es etwas Absurderes? Benecke zeigt seine Tätowierungen, den Erzengel Michael auf der Brust, die Namen der weitgehend unbekannten chinesischen Mädchenband "Jade" auf dem Unterarm. Am 10. Januar um 10 Uhr hat Jochen Schmidt im Sitzen gepinkelt. Am 16. Januar um 16 Uhr stand auf einem Klettergerüst: "Ich habe deine Famielie gefieckt". Am 23. Januar um 23 Uhr hat Schmidt an die Decke geguckt. Falko Hennig hat in Werneuchen einen Trabi gesehen und am Alexanderplatz einen bekleideten Hund. Mark Benecke war in Helsinki und in Köln. Es war eben einiges los in der Welt.
Berliner Zeitung, 02.02.2007
Felix Stephan
Eigentlich müsste es einen Kalender mit Aphorismen des Schriftstellers Jochen Schmidt geben. Jeder Tag begänne mit einem hübschen Spruch: "Wenn Autoren klug sein wollen, es aber nicht sind, sollten sie wenigstens ehrlich sein. Dann wären ihre Bücher auch interessant." Oder: "Es ist vermessen, ein Glück außerhalb des Schreibens zu suchen, wenn man schon eines innerhalb gefunden hat. Wieso verlange ich eigentlich noch, dass mich irgendetwas anderes glücklich macht?"
In seinem Proust-Blog, der gerade ausgelaufen ist und voraussichtlich im Frühjahr 2008 als Buch erscheint, wollte der Schriftsteller zeigen, dass "auch im eigenen Leben Zeit vergeht, während man Proust liest." In seiner neuen - ja was eigentlich? - Show "Die Weltchronik" will er mit seinem Kollegen Falko Hennig zeigen, dass überhaupt Zeit vergeht. Das klingt putzig, häufig liegt aber gerade in der Reduktion das Ausschweifende. Je weniger man sagt, desto mehr erzählt man - wenn man es denn kann. Am berühmtesten ist damit der Ire Samuel Beckett geworden.
"Die Weltchronik" hatte am Mittwoch im Kino Babylon Premiere. Schmidt und Hennig beauftragen jeden Monat einen - wie soll man sagen? - Star, 30 Tage seines Lebens zu dokumentieren. Ob da etwas passiert oder nicht. "Die Weltchronik" zeigt: Es passiert immer was.
Zur Premiere erschien Mark Benecke, ein berühmter Kriminalbiologe, der an den Insekten auf einer Leiche erkennt, seit wann sie da liegt. Oder der zwölf Jahre nach einer Tat beweist, dass das Opfer von vorn erschossen wurde statt von hinten. Die Spiegelscherben am Tatort seien schließlich in das Blut gefallen, nicht andersrum. Der Playboy hat ihn schon interviewt; Qvest, Neon und die Süddeutsche auch. Er hört Rammstein, schult Polizisten in der ganzen Welt und unterrichtet an ungefähr vierhundert Universitäten. Und er hat Fans: Im Foyer quieken Mutter und Tochter einer mutmaßlichen Arztfamilie, als sie sich mit ihm fotografieren lassen.
Überhaupt hat dieses Filmkunsthaus wahrscheinlich selten so ein klassisch berufstätiges Publikum gesehen, es wirkt ein bisschen wie ein Forensiker-Betriebsausflug. Ist es wahrscheinlich auch: "Wie viele Plätze müssen wir freihalten?" - "Weiß nicht genau. Wir sind, glaub' ich, zwölf."
Auf der Bühne gilt das inszenatorische Lesebühnenprinzip, denn da kommen die beiden Gastgeber her: Sie kündigen an, die vergehende Zeit für die Nachwelt zu archivieren, und dann funktioniert nur eins von drei Mikros. Und zwar immer ein anderes. Falko Hennig schlägt vor, das als Slapstick einzubauen, das geht dann aber ganz von selbst. Die Lichttechnik bestand zwar nur aus einer staubigen Stehlampe, trotzdem stolperte ständig jemand über ein Kabel. Diese Unbekümmertheit ist von Anfang an das komische Prinzip, doch das merken nicht alle: "Das hätten die mal proben sollen", findet einer, der vor Beginn erzählt hat, dass er mal in New York in einer Loge saß. Punkt acht ist auch was los bei ihm: "Na! Jetzt könnten wir aber."
"Die Weltchronik" hat keinen Anfang und kein Ende, sie hat überhaupt keine Form. Es gibt sie als Prosa, als Stichpunkt, als Live-Video, als digitales Foto und als Dia. Sie ist eine freundliche und hinterlistige Überreizung, man sieht nur Schnipsel, aber was ist die Welt auch sonst? Gleichzeitig Luhmanns Zettelkasten und ein 10 000-Seiten-Roman. Erklärungsbedürftig wie der Künstler Jonathan Meese, aber nicht so laut und so feucht.
Niemand ist hier wirklich am richtigen Ort, trotzdem sind alle hier und kommen nach der Pause auch wieder zurück. Ein Vertreter des Sponsors erklärt gut frisiert sein Produkt, jetzt ist auch das Business an seinem gefühlten Platz, merkt aber kaum einer.
Das Publikum hat jetzt aufgegeben, es lacht nur noch. Gibt es etwas Absurderes? Benecke zeigt seine Tätowierungen, den Erzengel Michael auf der Brust, die Namen der weitgehend unbekannten chinesischen Mädchenband "Jade" auf dem Unterarm. Am 10. Januar um 10 Uhr hat Jochen Schmidt im Sitzen gepinkelt. Am 16. Januar um 16 Uhr stand auf einem Klettergerüst: "Ich habe deine Famielie gefieckt". Am 23. Januar um 23 Uhr hat Schmidt an die Decke geguckt. Falko Hennig hat in Werneuchen einen Trabi gesehen und am Alexanderplatz einen bekleideten Hund. Mark Benecke war in Helsinki und in Köln. Es war eben einiges los in der Welt.
Berliner Zeitung, 02.02.2007
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