Nachtasyl (Berliner Zeitung)
Nachtasyl
Streuner, Flüchtlinge und Anarchisten - bis zum Morgengrauen im Kulturkaufhaus Dussmann
Kathrin Schrader
Auf der Lesegalerie im zweiten Stock sind die Schlafgäste in ihren Sesseln eingenickt. Es ist kurz vor Mitternacht.
Die Frau mit der Baskenmütze schläft nicht. Sie steht auf und knipst den Strahler aus, der auf ihren Platz gerichtet ist. Sie setzt sich wieder und schaut weiter in das Buch auf ihrem Schoß. Ihre Ellenbogen, spitz ausgebreitet wie Flügel, ruhen auf den Armlehnen. Graue Haarsträhnen ringeln aus der Mütze.
Ab und an blickt sie hinüber zu den Leuten, die an den Bücherregalen entlang- schlendern, Paare meist, die eben aus dem Theater oder der Oper kommen, und andere, die unterwegs sind durch die Nacht und noch im Kulturkaufhaus in der Friedrichstraße vorbeischauen.
Neben ihr schläft einer, als sei er ganz plötzlich erstarrt. Kerzengerade sitzt er im Sessel, den Mund zu einem erstorbenen Ruf geöffnet, die Beine übereinander geschlagen. Ein anderer, jüngerer, hat sein Gesicht mit einem roten Basecap bedeckt. Er trägt blütenweiße Tennissocken. Seine Beine liegen auf der Reisetasche vor dem Sessel. Die Haare, zu einem Zopf gebunden, hängen über der Rückenlehne. Er verströmt den erdigen Duft von Patschuli.
Sie werden bleiben, die ganze Nacht. Das geht jetzt, seit das Kulturkaufhaus manchmal Freitagnacht durchgehend geöffnet ist. Sie werden sich still verhalten, kultiviert. Man wird sie kaum bemerken.
Sie könnten ruhiger schlafen. In der Abteilung Wirtschaft zum Beispiel stehen breite, schwarze Sofas zum Fenster nach der Friedrichstraße. Man kann sich darauf ausstrecken. Bequemer sind auch die Sessel in der Abteilung Psychologie und Lebensführung. Doch diese Sessel bleiben leer. Leser ohne Ziel fürchten die Einsamkeit. Sie ziehen die Anonymität des Lärms vor, die Gemeinsamkeit in der Lounge. Das Piepen der Kassen unter ihnen, die Schritte auf den Marmortreppen, das leise Rascheln der Buchseiten, die immer gleiche Musik-Frequenz aus dem Videorekorder in der Filmabteilung. Liquid Music steht in der Anzeige auf dem Monitor. In der Flüssigkeit wabern Einzeller über den Bildschirm.
Ein Uhr. Die Kundin mit dem lockigen Rothaar und der silbernen Jacke spiegelt noch den Tag wider. Sie federt durch die Klassik-Abteilung im Untergeschoss, blickt übermütig durch ihre schmale, schwarz gerahmte Brille. Sie trägt ihr Wachsein zur Schau. Sie wird ihren Freundinnen erzählen, wie verrückt es sich anfühlt, nachts um eins bei Dussmann zu shoppen. Sie gehört nicht zur Nacht.
Die Frau im stillen Lesesalon über der Abteilung Belletristik sieht müde aus und blass, sie liest unkonzentriert, blickt oft auf. Das Buch nimmt sie nicht gefangen. Es lenkt sie nicht einmal ab. Manchmal lacht sie kurz auf, aber es ist nicht das überraschte Lachen einer Leserin. Ihr Lachen hat mit etwas anderem zu tun, mit dem, was sie heute erlebt hat. Vielleicht sind in der großen Tasche unter ihrem Sessel alle notwendigen Dinge, die sie braucht, um neu zu beginnen, irgendwo. Vielleicht.
Um zwei Uhr ist sie verschwunden. Die Studenten an den Kassen blättern in Comics, lernen Vokabeln, besuchen sich gegenseitig und reden über ihre Professoren und die WG. Die Rolltreppen schaufeln unermüdlich ins Leere. Der lange Gang liegt verlassen. Grauer Teppichboden, rot gesäumt. An seinem Ende klappert der Verkäufer auf einer Tastatur. Im Kamin an der Wand wedeln künstliche Flammen.
Später springt ein Mann die Stufen hinab, als flüchte er vor etwas da oben. Mit wenigen Schritten ist er bei Schostakowitsch, blättert, greift nach dem Violinenkonzert No. 1. Er reißt die Hülle auf, schiebt die Platte in den CD-Player, stülpt die Kopfhörer auf. Er senkt den Kopf. Die langen, glänzenden Haare verbergen sein Gesicht.
Die Frau mit der Baskenmütze ist in einen anderen Sessel umgezogen, auf die andere Seite der Galerie. Ein Mann hat sich zu ihr gesellt, trotz der kalten Nacht geht er barfuß in Sandalen. Er zeigt ihr die Bücher vom Ramschtisch im Windfang. "Das musst du einfach finden. Das findest du nicht in den Rezensionen. Das musst du finden. Man darf nicht suchen. Man muss finden."
Die Frau blickt ihn aus dunklen Augen an. Sie nickt. "Sechstausend Bände." Er hebt den Zeigefinger. Er trägt Bindfaden und Gummis um Finger und Handgelenke. "Ich sammle immer noch. Die Antiquariate rufen mich an. Kennst du jemanden, der Bücher sucht?" Die Frau schüttelt den Kopf. "Ich habe einen Freund in Krefeld." Sie spricht mit französischem Akzent.
Seine Augen blicken verschreckt aus knochigen Höhlen. "Die haben meine Wohnung aufgebrochen. Die haben gesagt, dass die Bücher zu schwer sind, dass sie das Haus kaputt machen. Die Balken. Ja." Er nickt. Die Frau blickt ihn an.
Er zieht ein Buch hinter seinem Rücken hervor. "Lies mal. Ein ganzes Buch, 124 Seiten, ein einziger Satz. Es ist in einem Satz geschrieben. Sieh dir das an. Das muss man finden. Eine Anarchistin. Ich bin auch Anarchist. Soll ich dir meine Visitenkarte geben?"
Er wühlt einen Stempel aus seiner Tasche, sucht in den Bücherstapeln neben dem Sessel nach einem Fetzen Papier. Er findet einen Werbeprospekt. Er druckt darauf seine Visitenkarte. "Kommst du aus Köln? Meine Schwester lebt in Köln."
Die Frau mit der Baskenmütze schüttelt den Kopf. "Mein Freund lebt in Krefeld", sagt sie.
Sie beugt sich über die winzigen Buchstaben der Visitenkarte. @rchiv-biblio-theke-ex-kursionen-gratis-kultur k.f. lehrstuhl f. kreativen wahnSinn-LEONAR.DEL.L.L.-manifest, dann folgen die Nummern zweier Postfächer.
Die Frau schiebt den Zettel zwischen die Seiten ihres Buches: "Harry Potter et l'Ordre du Phénix."
Im Untergeschoss ist der Flüchtling noch immer bei Schostakowitsch. Er sei nur zufällig hier, sagt er. Er sei direkt nach der Arbeit gekommen. Aus der Oper. Er spiele im Orchester. "Wenn ich tagsüber komme, muss ich mit den Verkäufern reden. Sie kennen mich alle. Das ist lästig. Ich habe keine Lust, mit den Verkäufern zu reden. Deshalb komme ich in der Nacht. Die Studenten lassen mich in Ruhe."
Also doch kein Zufall, dass er hier ist. Er antwortet nicht. Ein Flüchtling vor der Anonymität des Tages, der undeutlichen Masse an Menschen und belanglosen Sätzen, auf die man etwas erwidern muss, weil es der Tag so gebietet. Er gehört zur Nacht. Nachtmenschen sehnen sich nach der Deutlichkeit, mit der sie in diesen wenigen Stunden hervortreten. Wie die Scherbe des Mondes.
"Es ist hier ein bisschen wie bei Hemingway, ‘a clean, well lighted place‘ sagt ein Junge mit Wollmütze oben bei den Englisch sprachigen Büchern. "Da sind diese beiden Kellner. Einer ist wütend auf den letzten Gast, weil er nach Hause will, der andere ist froh, dass dieser Gast noch da ist, weil er nicht nach Hause will und die anderen Cafés nicht so sauber und hell sind wie das, in dem er arbeitet." Der Junge hat fiebrige Augen. Er blättert, ziellos scheinbar.
Drei Uhr. Die Bestsellerlisten schweigen. Erst am Tag beginnen sie wieder zu flattern wie die Anzeigen für Züge und Flieger, wie die Börsenkurse. Kommen Sie! Lesen Sie! Beeilen Sie sich! Sie verpassen sonst den Anschluss! Schnell! Kaufen Sie!
Gegen vier Uhr tritt ein Riese aus dem Labyrinth der Belletristik hervor, dem es gelungen ist, sich zu verstecken. Seit Stunden. Er schleicht mit gesenktem Kopf zur Kasse, baut einen Stapel Bücher und Platten auf die Theke. "Hat ein bisschen länger gedauert", sagt er schüchtern. Der Kassiererin ist das egal. Sie muss sowieso bis morgens um neun hier stehen.
Die offene Nacht ist eigentlich für die Käufer gedacht, aber die kommen nicht. Nur die Streuner wissen Bescheid. Es hat sich herumgesprochen. Im Sommer werden sie wieder hier übernachten können, wenn Touristen und Nachtschwärmer nach Berlin kommen und Dussmann das nächste Mal durchgehend öffnet.
Die Klimaanlage rauscht. Liquid Music perlt. LEONAR.DEL.L.L. ist eingeschlafen. Die Französin blickt in ihr Buch. Der mit dem roten Basecap und den weißen Tennissocken ist aufgewacht. Er läuft durchs Haus, als wäre es seine Wohnung, als suche er nach der Kaffeemaschine.
"Die Dussmanns kennen mich gut", sagt er. "Ich war hier, als Bill Clinton gelesen hat. Ich habe ihm danach zwei Bücher überreicht. Den Greenpeace-Führer für genmanipulierte Lebensmittel und das Buch eines Indianerhäuptlings. Ich mag Indianer, obwohl sie Fleisch essen. Indianer haben Respekt vor den Tieren, die sie töten."
Er zählt auf, was alles nicht in seinen Körper darf: Kaffee, schwarzer Tee, Nikotin, Schokolade, Fleisch, Alkohol. "Ich dusche jeden Tag kalt. Es gibt da einen Ort. Da kann man hingehen und duschen. Kostet nichts." Er schläft gern bei Dussmann, lieber als in der S-Bahn.
Der Anarchist öffnet die Augen, blinzelt. Er beginnt wieder zu rasseln: "Nur wer schreibt, kann Probleme lösen. Weißt du, ich hatte die Idee, auf Klorollen zu schreiben, auf das, was die Leute benutzen und wegwerfen. So viel verschenkter Platz."
Die Frau mit der Baskenmütze zieht ein Päckchen Milch aus ihrer Tasche, schaut es kurz an, packt es wieder ein.
"Am Montag bekomme ich eine Wohnung", sagt der Mann mit dem roten Basecap. "Der Mietvertrag ist so gut wie unterschrieben." Dann will er Unternehmensberater werden. Er hat gelesen, dass das alles Idioten sein sollen, die Unternehmensberater. Das könne er sicher besser.
"Ich habe einen Freund in Krefeld", sagt die Frau. Der Anarchist schweigt.
Fünf Uhr morgens. Bald werden die ersten Kunden des Tages das Kulturkaufhaus betreten.
Berliner Zeitung, 03.02.2007
Streuner, Flüchtlinge und Anarchisten - bis zum Morgengrauen im Kulturkaufhaus Dussmann
Kathrin Schrader
Auf der Lesegalerie im zweiten Stock sind die Schlafgäste in ihren Sesseln eingenickt. Es ist kurz vor Mitternacht.
Die Frau mit der Baskenmütze schläft nicht. Sie steht auf und knipst den Strahler aus, der auf ihren Platz gerichtet ist. Sie setzt sich wieder und schaut weiter in das Buch auf ihrem Schoß. Ihre Ellenbogen, spitz ausgebreitet wie Flügel, ruhen auf den Armlehnen. Graue Haarsträhnen ringeln aus der Mütze.
Ab und an blickt sie hinüber zu den Leuten, die an den Bücherregalen entlang- schlendern, Paare meist, die eben aus dem Theater oder der Oper kommen, und andere, die unterwegs sind durch die Nacht und noch im Kulturkaufhaus in der Friedrichstraße vorbeischauen.
Neben ihr schläft einer, als sei er ganz plötzlich erstarrt. Kerzengerade sitzt er im Sessel, den Mund zu einem erstorbenen Ruf geöffnet, die Beine übereinander geschlagen. Ein anderer, jüngerer, hat sein Gesicht mit einem roten Basecap bedeckt. Er trägt blütenweiße Tennissocken. Seine Beine liegen auf der Reisetasche vor dem Sessel. Die Haare, zu einem Zopf gebunden, hängen über der Rückenlehne. Er verströmt den erdigen Duft von Patschuli.
Sie werden bleiben, die ganze Nacht. Das geht jetzt, seit das Kulturkaufhaus manchmal Freitagnacht durchgehend geöffnet ist. Sie werden sich still verhalten, kultiviert. Man wird sie kaum bemerken.
Sie könnten ruhiger schlafen. In der Abteilung Wirtschaft zum Beispiel stehen breite, schwarze Sofas zum Fenster nach der Friedrichstraße. Man kann sich darauf ausstrecken. Bequemer sind auch die Sessel in der Abteilung Psychologie und Lebensführung. Doch diese Sessel bleiben leer. Leser ohne Ziel fürchten die Einsamkeit. Sie ziehen die Anonymität des Lärms vor, die Gemeinsamkeit in der Lounge. Das Piepen der Kassen unter ihnen, die Schritte auf den Marmortreppen, das leise Rascheln der Buchseiten, die immer gleiche Musik-Frequenz aus dem Videorekorder in der Filmabteilung. Liquid Music steht in der Anzeige auf dem Monitor. In der Flüssigkeit wabern Einzeller über den Bildschirm.
Ein Uhr. Die Kundin mit dem lockigen Rothaar und der silbernen Jacke spiegelt noch den Tag wider. Sie federt durch die Klassik-Abteilung im Untergeschoss, blickt übermütig durch ihre schmale, schwarz gerahmte Brille. Sie trägt ihr Wachsein zur Schau. Sie wird ihren Freundinnen erzählen, wie verrückt es sich anfühlt, nachts um eins bei Dussmann zu shoppen. Sie gehört nicht zur Nacht.
Die Frau im stillen Lesesalon über der Abteilung Belletristik sieht müde aus und blass, sie liest unkonzentriert, blickt oft auf. Das Buch nimmt sie nicht gefangen. Es lenkt sie nicht einmal ab. Manchmal lacht sie kurz auf, aber es ist nicht das überraschte Lachen einer Leserin. Ihr Lachen hat mit etwas anderem zu tun, mit dem, was sie heute erlebt hat. Vielleicht sind in der großen Tasche unter ihrem Sessel alle notwendigen Dinge, die sie braucht, um neu zu beginnen, irgendwo. Vielleicht.
Um zwei Uhr ist sie verschwunden. Die Studenten an den Kassen blättern in Comics, lernen Vokabeln, besuchen sich gegenseitig und reden über ihre Professoren und die WG. Die Rolltreppen schaufeln unermüdlich ins Leere. Der lange Gang liegt verlassen. Grauer Teppichboden, rot gesäumt. An seinem Ende klappert der Verkäufer auf einer Tastatur. Im Kamin an der Wand wedeln künstliche Flammen.
Später springt ein Mann die Stufen hinab, als flüchte er vor etwas da oben. Mit wenigen Schritten ist er bei Schostakowitsch, blättert, greift nach dem Violinenkonzert No. 1. Er reißt die Hülle auf, schiebt die Platte in den CD-Player, stülpt die Kopfhörer auf. Er senkt den Kopf. Die langen, glänzenden Haare verbergen sein Gesicht.
Die Frau mit der Baskenmütze ist in einen anderen Sessel umgezogen, auf die andere Seite der Galerie. Ein Mann hat sich zu ihr gesellt, trotz der kalten Nacht geht er barfuß in Sandalen. Er zeigt ihr die Bücher vom Ramschtisch im Windfang. "Das musst du einfach finden. Das findest du nicht in den Rezensionen. Das musst du finden. Man darf nicht suchen. Man muss finden."
Die Frau blickt ihn aus dunklen Augen an. Sie nickt. "Sechstausend Bände." Er hebt den Zeigefinger. Er trägt Bindfaden und Gummis um Finger und Handgelenke. "Ich sammle immer noch. Die Antiquariate rufen mich an. Kennst du jemanden, der Bücher sucht?" Die Frau schüttelt den Kopf. "Ich habe einen Freund in Krefeld." Sie spricht mit französischem Akzent.
Seine Augen blicken verschreckt aus knochigen Höhlen. "Die haben meine Wohnung aufgebrochen. Die haben gesagt, dass die Bücher zu schwer sind, dass sie das Haus kaputt machen. Die Balken. Ja." Er nickt. Die Frau blickt ihn an.
Er zieht ein Buch hinter seinem Rücken hervor. "Lies mal. Ein ganzes Buch, 124 Seiten, ein einziger Satz. Es ist in einem Satz geschrieben. Sieh dir das an. Das muss man finden. Eine Anarchistin. Ich bin auch Anarchist. Soll ich dir meine Visitenkarte geben?"
Er wühlt einen Stempel aus seiner Tasche, sucht in den Bücherstapeln neben dem Sessel nach einem Fetzen Papier. Er findet einen Werbeprospekt. Er druckt darauf seine Visitenkarte. "Kommst du aus Köln? Meine Schwester lebt in Köln."
Die Frau mit der Baskenmütze schüttelt den Kopf. "Mein Freund lebt in Krefeld", sagt sie.
Sie beugt sich über die winzigen Buchstaben der Visitenkarte. @rchiv-biblio-theke-ex-kursionen-gratis-kultur k.f. lehrstuhl f. kreativen wahnSinn-LEONAR.DEL.L.L.-manifest, dann folgen die Nummern zweier Postfächer.
Die Frau schiebt den Zettel zwischen die Seiten ihres Buches: "Harry Potter et l'Ordre du Phénix."
Im Untergeschoss ist der Flüchtling noch immer bei Schostakowitsch. Er sei nur zufällig hier, sagt er. Er sei direkt nach der Arbeit gekommen. Aus der Oper. Er spiele im Orchester. "Wenn ich tagsüber komme, muss ich mit den Verkäufern reden. Sie kennen mich alle. Das ist lästig. Ich habe keine Lust, mit den Verkäufern zu reden. Deshalb komme ich in der Nacht. Die Studenten lassen mich in Ruhe."
Also doch kein Zufall, dass er hier ist. Er antwortet nicht. Ein Flüchtling vor der Anonymität des Tages, der undeutlichen Masse an Menschen und belanglosen Sätzen, auf die man etwas erwidern muss, weil es der Tag so gebietet. Er gehört zur Nacht. Nachtmenschen sehnen sich nach der Deutlichkeit, mit der sie in diesen wenigen Stunden hervortreten. Wie die Scherbe des Mondes.
"Es ist hier ein bisschen wie bei Hemingway, ‘a clean, well lighted place‘ sagt ein Junge mit Wollmütze oben bei den Englisch sprachigen Büchern. "Da sind diese beiden Kellner. Einer ist wütend auf den letzten Gast, weil er nach Hause will, der andere ist froh, dass dieser Gast noch da ist, weil er nicht nach Hause will und die anderen Cafés nicht so sauber und hell sind wie das, in dem er arbeitet." Der Junge hat fiebrige Augen. Er blättert, ziellos scheinbar.
Drei Uhr. Die Bestsellerlisten schweigen. Erst am Tag beginnen sie wieder zu flattern wie die Anzeigen für Züge und Flieger, wie die Börsenkurse. Kommen Sie! Lesen Sie! Beeilen Sie sich! Sie verpassen sonst den Anschluss! Schnell! Kaufen Sie!
Gegen vier Uhr tritt ein Riese aus dem Labyrinth der Belletristik hervor, dem es gelungen ist, sich zu verstecken. Seit Stunden. Er schleicht mit gesenktem Kopf zur Kasse, baut einen Stapel Bücher und Platten auf die Theke. "Hat ein bisschen länger gedauert", sagt er schüchtern. Der Kassiererin ist das egal. Sie muss sowieso bis morgens um neun hier stehen.
Die offene Nacht ist eigentlich für die Käufer gedacht, aber die kommen nicht. Nur die Streuner wissen Bescheid. Es hat sich herumgesprochen. Im Sommer werden sie wieder hier übernachten können, wenn Touristen und Nachtschwärmer nach Berlin kommen und Dussmann das nächste Mal durchgehend öffnet.
Die Klimaanlage rauscht. Liquid Music perlt. LEONAR.DEL.L.L. ist eingeschlafen. Die Französin blickt in ihr Buch. Der mit dem roten Basecap und den weißen Tennissocken ist aufgewacht. Er läuft durchs Haus, als wäre es seine Wohnung, als suche er nach der Kaffeemaschine.
"Die Dussmanns kennen mich gut", sagt er. "Ich war hier, als Bill Clinton gelesen hat. Ich habe ihm danach zwei Bücher überreicht. Den Greenpeace-Führer für genmanipulierte Lebensmittel und das Buch eines Indianerhäuptlings. Ich mag Indianer, obwohl sie Fleisch essen. Indianer haben Respekt vor den Tieren, die sie töten."
Er zählt auf, was alles nicht in seinen Körper darf: Kaffee, schwarzer Tee, Nikotin, Schokolade, Fleisch, Alkohol. "Ich dusche jeden Tag kalt. Es gibt da einen Ort. Da kann man hingehen und duschen. Kostet nichts." Er schläft gern bei Dussmann, lieber als in der S-Bahn.
Der Anarchist öffnet die Augen, blinzelt. Er beginnt wieder zu rasseln: "Nur wer schreibt, kann Probleme lösen. Weißt du, ich hatte die Idee, auf Klorollen zu schreiben, auf das, was die Leute benutzen und wegwerfen. So viel verschenkter Platz."
Die Frau mit der Baskenmütze zieht ein Päckchen Milch aus ihrer Tasche, schaut es kurz an, packt es wieder ein.
"Am Montag bekomme ich eine Wohnung", sagt der Mann mit dem roten Basecap. "Der Mietvertrag ist so gut wie unterschrieben." Dann will er Unternehmensberater werden. Er hat gelesen, dass das alles Idioten sein sollen, die Unternehmensberater. Das könne er sicher besser.
"Ich habe einen Freund in Krefeld", sagt die Frau. Der Anarchist schweigt.
Fünf Uhr morgens. Bald werden die ersten Kunden des Tages das Kulturkaufhaus betreten.
Berliner Zeitung, 03.02.2007
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