Knaller an der Zeitungsfront

Wednesday, January 02, 2008

Good bye, London (Berliner Zeitung)

Good bye, London
Nach fünf Jahren kehrt unsere Korrespondentin Sabine Rennefanz nach Deutschland zurück. Eine persönliche Bilanz

Im Sommer besuchte ich den Bürgermeister des Königlichen Bezirks Kensington & Chelsea. Wir sprachen über den geplanten Umbau des Sloane Squares. Der Platz im Herzen des Stadtteils sollte verschönert werden, die Anwohner waren dagegen. Weil es sich dabei um Prominente wie den Schauspieler Rupert Everett und den Sänger Bryan Ferry handelte, war es eine Geschichte, eine sehr englische Geschichte.

Der Bürgermeister heißt Daniel Moylan. Er ist ein gemütlicher dicker Mann, sein Gesicht erinnerte mich an die Porträts reicher Kaufleute aus dem 19. Jahrhundert, die in der National Portrait Gallery hängen. Ein Tory natürlich. Er sei überlastet, klagte er. Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Baugenehmigungen für Swimmingpools und Kinos, die sich die russischen und amerikanischen und indischen Millionäre gerne unter ihre Villen bauen lassen. Das sind die Sorgen, die man in Kensington & Chelsea hat.

Wo ich denn lebe, fragte der Bürgermeister zum Abschied freundlich. Camden, erwiderte ich. Da veränderte sich sein Blick. Ich spürte, wie sich vor seinem inneren Auge Sozialbauten, betrunkene Teenager und liberale Guardian-Leser aufbauten, was man so mit Camden verbindet. "Ach, da haben Sie den Ausflug aber verdient, das ist ja dann wie eine Kur", sagte Moylan gönnerhaft. "Bleiben Sie ruhig ein bisschen länger."

Knapp fünf Jahre habe ich in London gelebt. Nach hiesigen Maßstäben habe ich auf der ganzen Linie versagt. Ich kam mit einem Rucksack, einem Tisch, einem Fahrrad. Der Rucksack ist kaputt, den Tisch habe ich verschenkt, das Fahrrad wurde mir gestohlen.

Wer in London etwas gelten will, braucht Geld, viel Geld. London ist in den vergangenen fünf Jahren zum "Magneten für die Milliardäre" geworden, wie die Bibel der Superreichen, Forbes, kürzlich bemerkte. Ölscheiche aus dem Mittleren Osten, Stahlmagnaten aus Indien und Russland haben die Preise nach oben getrieben. Für Wohnraum, Nachtleben und Kaviar, wie Forbes ergänzte.

Den Mangel an Barem kann man zur Not durch den richtigen Background wettmachen. Alter Adel ist nicht schlecht. Und Schulen. In biografischen Berichten über Prominente und Politiker wird der Name ihrer Schule extra erwähnt. Es kann passieren, dass man mit Bekannten spazieren geht, und jemand sagt aufgeregt: "Hier, eine gute Grundschule", als handle es sich um eine Sehenswürdigkeit. Die guten staatlichen Schulen sind in den teuersten Wohngebieten. Die soziale Mobilität hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Biografien wie die der Lebensmittelhändlertochter Margaret Thatcher oder John Major, der mit 16 die Schule verlassen hat, werden seltener. Die Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge ziehen ihre Studenten aus einem erlesenen Kreis von Schulabgängern, hauptsächlich von einhundert Schulen landesweit. Vier Fünftel davon sind Privatschulen.

Da ich nicht mit klassisch englischen Referenzen glänzen konnte, versuchte ich, mich möglichst unauffällig anzupassen. Es gibt keine Personalausweise, keine Meldepflicht. Das erleichtert einen Umzug aus dem Ausland ungemein. Die Engländer sind praktische Leute, die gerne ihre Geburtsdaten und Bankverbindungen an Supermärkte und Telefonfirmen weitergeben, aber nicht an den Staat. Der zentralen Bürokratie wird misstraut, das ist seit der Magna Charta aus dem 13. Jahrhundert Tradition. Alles, was man braucht, um den Alltag zu organisieren, ein Bankkonto zu eröffnen, einen Mietvertrag zu unterzeichnen, ist eine Stromrechnung. Bleibt nur das kleine Detail, wie man denn an eine Stromrechnung kommt, wenn man gar keine Bleibe hat, die Strom zapfen könnte. An solchen Fragen erkennt man den Ausländer.

Ich bezog eine möblierte Wohnung im Norden Londons. Ich verteilte Decken an meine deutschen Besucher, die nicht verstehen wollten, dass durchlässige Fenster und feuchte Wände sowie ein Teppich im Badezimmer zum englischen Charme gehören. Dabei hatte ich sogar eine Powershower! Eine Dusche, aus der das Wasser nicht nur tröpfelte. Auch sonst passte ich mich an, ich begann, das lauwarme Bier zu trinken, das die Engländer das einzig wahre Bier nennen, Real Ale. Ich aß mit Appetit Würstchen und Eier und Porridge und wunderte mich bald nicht mehr, warum bei Frauen die Durchschnittsgröße 44 ist.

Ich trotzte dem schlechten Ruf des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS und meldete mich an. Die Abgaben für den steuerfinanzierten Dienst sind vergleichsweise niedrig, genauso wie das Niveau des Services. Bald hatte ich keine andere Wahl. Der Blinddarm hatte sich entzündet, ich musste in die Notaufnahme. Ich ging ins Whittingdon Krankenhaus. Ich erinnere mich noch heute an das schockverzerrte Gesicht der Freundin, die mich begleitete, als wir auf dem Weg zum OP-Raum beinahe im Fahrstuhl steckenblieben. Mir war zu dem Zeitpunkt alles egal.
Schließlich wurde ich doch operiert, die Wunde ist längst verheilt, und ich höre mich gelegentlich sagen, dass der NHS eigentlich doch nicht so schlecht ist. Wenn man genug Geld beiseite legt, um einen Privatarzt aufzusuchen, der einem zum Beispiel die Kreuzbandzerrung für 55 Pfund behandelt, pro Stunde. Auf solche Behandlungen muss man beim NHS nämlich bis zu sechs bis neun Monate warten.

Irgendwann muss mich der Glaube verlassen haben, jemals eine ordentliche Londonerin zu werden. Vielleicht fing es damit an, dass ich nie Lust verspürte, beim Immobilien-Monopoly mitzumachen, das die Briten so gerne spielen. Siebzig Prozent besitzen Haus- oder Wohneigentum und waren in den vergangenen Jahren stets bereit, den Wertzuwachs für Konsum auf Pump zu finanzieren. Ich fand es nie schlau, mich mit rund 300 000 Pfund für eine Ein-Zimmer-Wohnung in einem Vorort einer Stadt zu verschulden, die wahrscheinlich nur begrenzt meine Heimat sein würde. Meine englischen Freunde fanden das typisch deutsch, diese Angst vorm Risiko.

Der Immobilienwahn fessele die Briten, hat der Wahllondoner Herbert Grönemeyer sinngemäß einmal formuliert. Alles drehe sich um die "property ladder". Erst kaufe man ein kleines Häuschen und arbeite sich dann Stufe für Stufe die Leiter hoch. Wenn ich Grönemeyer richtig verstanden habe, hielt er das für ein perfides System, die Leute in abhängiger Erwerbsarbeit zu halten. Als Multimillionär sagt sich das leicht.

Neulich saß ich auf einem Bahnhof im Norden Englands, in einem Ort namens Oxenholme und wartete auf den Zug nach London-Euston. Es war Sonntagabend. Die Fahrt sollte sechs Stunden dauern, doppelt so lang wie während der Woche. Es war einer dieser Momente, in denen ich mich nach Deutschland sehnte. Ich sehnte mich nach geräumigen ICEs, nach gemütlichen Cafés, die nicht nur dünnen Cappuccino und pappige Sandwiches anbieten. Ich sah einen Wegweiser. "Proper coffee in a proper café."

Proper war an dem Café gar nichts, nur die stilsichere Geschmacklosigkeit, gelbe Wände, grelles Licht. In dem Kühlregal: Wodkamixgetränke und Bier. In einem anderen Regal: Kartoffelchips mit Krabbencocktailgeschmack. Ein paar Teenager kamen rein, sie rollten auf Skateboards. Eine Bahnhofsdurchsage warnte, dass man sein Gepäck beobachten solle, andernfalls würde ein Sicherheitskommando anrücken. Ja, man kann sich vorstellen, dass Terroristen von nichts anderem träumen, als Oxenholme zu zerstören.

Endlich kam der Zug. Er brauchte acht Stunden, genauso lange wie etwa der Flug nach Nairobi. Einmal hielten wir, weil die Lok kaputt war. Dann hielten wir, weil Betrunkene randalierten. Ich verstand nicht ganz, warum das ein Problem war, schließlich gilt Betrunkensein doch als legitime Wochenendbeschäftigung. Aber es war Sonntagabend, da hört der Spaß offenbar auf. Ich war froh, wieder in London zu sein.

Die Stadt ist eine Insel. Sie überstrahlt das ganze Land, sie ist Wirtschaftsmotor und eine Art Schleuder, die Arbeitskräfte und Bewohner anzieht und wieder ausspuckt. Wenn London sich erkältet, schnieft das ganze Land.

London hat in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebt, wie zuletzt im 19. Jahrhundert - von der britischen Hauptstadt zur globalen Finanzmetropole. Die Londoner Wirtschaft schafft mehr Einkommen als Volkswirtschaften wie Schweden und die Schweiz. Ein Drittel des britischen Reichtums wird allein von der sich aus der Londoner City ausbreitenden Finanzbranche erwirtschaftet.

Doch die goldenen Jahre der Geldindustrie, die das Land mitgezogen und den armen Norden subventioniert haben, sind vorbei. Es schwant den Briten, dass der seit vierzehn Jahren andauernde Wirtschaftsboom womöglich nicht ewig hält. Wenn man durch die Oxford Street flaniert, merkt man davon nichts. Seit Sommer hängen glitzernde Kleider in den Läden - für die zahlreichen Weihnachts- und Silvesterpartys. Die Schaufenster der Kaufhäuser sind prachtvoll dekoriert wie immer. Nach einer Umfrage der Beratungsfirma Deloitte & Touche haben die Briten dieses Jahr 706 Pfund pro Kopf für Geschenke und Partys ausgegeben, sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Das klingt ein bisschen nach Tanz auf dem Vulkan.

Der Konsum ist eng an die Immobilienentwicklung gekoppelt. Und auf dem Hausmarkt sieht es gar nicht gut aus. Die Preise stagnieren. Gleichzeitig schlagen die gestiegenen Energiekosten zu Buche. Die Wirtschaftsaussichten für das nächste Jahr sind so düster wie seit 1991 nicht mehr. Das hängt mit der internationalen Kreditkrise zusammen. Die Anteile der Banken sind gefallen. Der Schock von Northern Rock sitzt tief. Die Regierung musste mit 25 Milliarden Pfund die klamme Bausparkasse retten. Die Bilder von Schlangen besorgter Sparer haben auch andere Kunden verunsichert. Es war die erste Bankenkrise in 140 Jahren. Im Büro scherzten wir, meine holländische Kollegin und ich, welche Bank denn als nächstes dran ist. Die englischen Kollegen schwiegen betreten.

Großbritannien steht an der Grenze zu einer neuen Zeit. Alles begann 2005 mit zwei Ereignissen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Im Juli sprengten vier Rucksackbomber sich in den Londoner U-Bahnen und einem Bus in die Luft. 56 Menschen starben. Kurz zuvor war der Arbeitsmarkt für die neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsländer geöffnet worden. Geschätzte 800 000 sollten in den kommenden zwei Jahren allein aus Polen kommen.

Zuerst hatte es so ausgesehen, als ob die Londoner den Anschlag schnell verarbeiten würden. Die überlebenden Passagiere entstiegen den Tunneln, schüttelten sich den Staub ab und gingen ins Büro, als wäre nichts gewesen. Schon wenige Wochen danach war der U-Bahnbetrieb wieder auf Normalniveau.

Nur meine Bekannten aus Deutschland erkundigten sich vor Besuchen sicherheitshalber, ob es nicht besser wäre, ein Taxi zu nehmen. Ich hatte darauf keine wirkliche Antwort. Nur: Die Gefahr, dass man als Fremder in ein illegales Taxi gerät und ausgeraubt wird, ist wahrscheinlich höher als die Bombengefahr.

Kürzlich saß ich in der Victoria-Linie und vernahm einen lauten Knall. Ich schreckte hoch und fürchtete sofort das Schlimmste, während sich die anderen Mitreisenden gemütlich in ihre Zeitungen vertieften.

Doch dass die Londoner keine Angst zeigen, heißt nicht, dass sie keine haben.
Die vier Bomber von London waren keine ausländischen Jihadisten. Ihre Eltern sind aus Pakistan nach Großbritannien gekommen und haben ihr Leben lang geschuftet, um ihnen ein besseres Leben zu bieten. Und die sprengen sich in die Luft. Sie waren Lehrer, Studenten. Sie waren Nachbarn aus Leeds. Wenn man nicht mal den Vorzeigemodellen der Integration trauen kann, wem dann? Das Misstrauen vergiftet die Atmosphäre, schleichend. Die Anschläge, tödlich oder nicht, stellen die Grundsätze des Landes auf den Kopf.

Die Briten interessieren sich nicht für große Ideen und Ideale, sie machen einander keine Vorschriften, wie man zu leben hat, sie interessieren sich nicht dafür, ob der Nachbar Turban oder Kopftuch trägt, solange sie selbst in Frieden in ihren vier Wänden leben können. Die Einstellung wird in dem Spruch "My home is my castle" sehr schön wiedergegeben."
Die Terroranschläge haben den unausgesprochenen Vertrag gekündigt. Das vergiftet die Beziehungen, das macht jeden Mann mit Bart zu einem Verdächtigen, jede Frau mit Schleier zu einer Komplizin, jede Moschee zu einem Terrornest.

Ich erinnere mich an die Reise nach Beeston, den Stadtteil von Leeds, wo die Attentäter gelebt hatten. Die älteren Moslems waren fassungslos, die jüngeren stolz und voller Testosteron. Die Terroristen waren für sie Helden, Helden ihrer eigenen Welt, die mit der da draußen nichts zu tun hatten. "Haut ab, hier ist nicht London, nicht Leeds, hier ist Beeston, hier gelten unsere Regeln!", brüllten sie uns Reportern zu, mit einer Aggressivität, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Ich hatte Angst.

Öffentlich spricht man darüber nur verschämt. Politischer Islamismus? Radikale Moslems? Die Regierung verwendet nur die Begriffe "terrorists" und "extremists". Die Worte "Islam" oder "Moslem" kommen aus Rücksicht auf die muslimische Minderheit nicht vor. Es ist die Samthandschuhmethode.

Dabei wäre ein richtiger Streit über die langjährige Komplizenschaft des britisch-muslimischen Establishments bei der Entwicklung von "homegrown terrorists" vielleicht gar nicht schlecht. Gelegenheit für Auseinandersetzung hätte es mehr als genug gegeben, zum Beispiel, als der Schriftsteller Martin Amis darüber fantasierte, dass er den Drang verspüre, Moslems zu diskriminieren, "sie unter Bewachung zu stellen, bis es die ganze Community schmerzt und sie endlich anfangen, strenger zu den Kindern zu sein".

Es war dummes Gerede, sagt er heute, aber es hat über ein Jahr gebraucht, bis er das zugegeben hat. Anderswo hätte die Bemerkung wahrscheinlich einen Sturm der Entrüstung ausgelöst - eine Debatte über Identität und Integration. Hier hat sich bis auf ein, zwei Schriftsteller auf den Feuilletonseiten niemand geäußert. Martin Amis sei ein Durchgeknallter, dessen Meinungen man am besten ignoriere, brachte eine Guardianleserin in einem Brief die herrschende Meinung des liberalen Großbritanniens auf den Punkt. Doch was, wenn Amis eben kein Durchgeknallter ist, sondern das sagt, was außerhalb der liberalen Zirkel gedacht wird? Ich habe nicht verstanden, warum ein Land, das die Debatte so sehr liebt, ausgerechnet bei diesem Thema so ängstlich ist. Vielleicht hat man auch das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen - wo jede falsche Bemerkung eine Explosion auslösen könnte.

Oder die Polen. Während am Anfang die Osteuropäer mit offenen Armen empfangen und von Unternehmern für ihren Fleiß gelobt wurden, kommt jetzt ein anderer Ton durch. Er dringt aus den Boulevardzeitungen von Daily Mail bis Sun, diesen selbsternannten Pulsmessern der Nation. Dort werden die Osteuropäer täglich zu Sündenböcken der Nation erklärt. Manchmal werden sogar Probleme erfunden, von denen man gar nicht wusste, dass sie existierten. Polnische Immigranten besitzen offenbar die Frechheit, Fische zum Verzehr und nicht nur zum Zeitvertreib zu angeln. Shocking.

Andere Stimmen hüllen sich verschämt in die Anonymität. Ein hochrangiger britischer Diplomat entgegnete auf die Frage, warum das Land die Arbeitsbeschränkungen gegenüber Bulgaren und Rumänen nicht aufheben werde: Man wolle nicht, dass die Rumänen in Basingstoke beim Arbeitsamt Schlange stehen. Diejenigen, die der Insel entflohen sind, sind offener. "Je mehr Einwanderer kommen, umso mehr wird Großbritannien seinen Charakter verlieren", wird der Sänger Morrissey im New Musical Express zitiert. Man könnte auch entgegengesetzt argumentieren: dass Großbritannien seinen freiheitlichen, offenen Charakter behält, weil immer wieder frisches Blut von außen zugeführt wird. Seit über einhundert Jahren. Erst kamen die Hugenotten, dann die Juden, später zahlloses Volk aus den alten Kolonien in Asien und der Karibik.

Ohne die Polen würde die Serviceindustrie in London zusammenbrechen. Ohne die vielen indischen, pakistanischen Restaurants wäre die britische Küche öde. Ohne die russischen Millionäre würden die Luxusgüterproduzenten pleite gehen. Ohne die Ausländer wäre London ärmer. Meine beeindruckendsten Begegnungen hier hatte ich meistens mit Personen nicht-britischer Herkunft. Zum Beispiel der junge polnische Philosoph, der im mittelenglischen Peterborough Motoren zusammenschraubt und eine Gesellschaft zur Verständigung zwischen Briten und Polen aus seinem Schlafzimmer heraus gegründet hat. Die engagierte Labour-Politikerin aus Bangladesh, die als Siebenjährige nach London kam und wahrscheinlich bei der nächsten Wahl als erste bengalische Abgeordnete ins Parlament einzieht. All die Menschen, die nur mit einem Koffer hier angekommen sind und sich durch harte Arbeit eine Existenz aufbauen, die täglich ums Überleben in einer der ungleichsten und härtesten Städte der Welt kämpfen. Ich bewundere und beneide sie für den Fleiß und die Kraft und das Durchhaltevermögen und wünschte, ich hätte mehr davon.

Dem Sänger Morrissey war sein Zitat so peinlich, dass er seinen Anwalt schickte, um die Drucklegung zu verhindern. Er hatte Angst, die Leser könnten denken, er habe das Königreich wegen der vielen Ausländer verlassen. Er lebt in Los Angeles und Rom. Morrissey, der Prophet der Düsterheit, liegt in gewisser Weise im Trend. Während die Insel Einwanderer aus aller Welt anzieht, entfliehen die Briten dem Königreich. Rund 200 000 Briten sind vergangenes Jahr ausgewandert, ein historischer Höchststand. Sie wandern aus nach Australien, Neuseeland, Kanada, nach Spanien oder Frankreich. Deutschland ist nicht ihr Ziel, aber es ist auch mehr ihr Feindbild.

Es ist es leichter geworden, Deutscher zu sein in Großbritannien. Ich erinnere mich, dass mir vor drei Jahren ein Labour-Funktionär mit dem Hitlergruß salutiert hat, vor lauter Kollegen. Ich fand das komisch, hielt das aber für den berühmten englischen Humor. Ich erinnere mich vor allem daran, wie peinlich berührt und geschockt die englischen Kollegen waren, und wie eifrig sie sich entschuldigten. Den Funktionär hat es im Übrigen nicht lange im Job gehalten.
Es ist, als hätten Deutschland und Großbritannien inzwischen die Rollen vertauscht. Während sich Großbritannien nervös und unsicher anfühlt, wirkt Deutschland aus Londoner Sicht plötzlich entspannt und mit sich selbst im Reinen. Das mag vielleicht mein Weichzeichner sein, es ist ja merkwürdig, kaum hat man das deutsche Festland aus den Augen verloren, fällt einem auf, was gut und schön ist und malt die Heimat in den rosigsten Farben.

Es ist gut, nach Hause zu gehen, sagt mein Lebensmittelhändler George. Er wolle das auch mal machen. George gehört der "Continental Provision Store", der zu dem Laden meines Vertrauens geworden ist, eben wegen der kontinentalen Ausstattung. George ist in London geboren, er lebt seit fünfzig Jahren hier, doch nur wenn er sich in Nikosia auf Zypern befindet, fühlt er sich daheim, sagt er.

Es ist sieben Uhr morgens, draußen geht die Sonne über London auf. Es ist meine Lieblingstageszeit im Winter, wenn es noch dunkel ist und die Wolkenkratzer im Osten glitzern und dann langsam in ein helles Rot getaucht werden. Ich klettere auf Parliament Hill, eine Anhöhe, die wahrscheinlich so heißt, weil man irgendwann mal das Parlament sehen konnte. Jetzt lugt Big Ben ganz klein und verschwommen hinter dem Riesenrad hervor. Ich erzähle George, wie sehr ich diesen Ausblick liebe. Er sagt etwas, was sich wie "hm, hm" anhört. Und dann: "Es ist gut, nach Hause zu gehen."

Berliner Zeitung, 29.12.2007

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