Knaller an der Zeitungsfront

Friday, February 23, 2007

Fußball oder: Wir wollen euer Leben (Tagesspiegel)

(23.02.2007)
Fußball oder: Wir wollen euer Leben
Morgen wird wieder gespielt in Leipzig. Aber was? Vor zwei Wochen war es Krieg – ein Blick zurück
Von Clemens Meyer, Leipzig

14 Uhr:
Die zweite Mannschaft von Aue ist Favorit in diesem Pokalspiel gegen den 1. FC Lok Leipzig, spielt eine Klasse höher in der fünften Liga, und so beginnt sie auch: In der dritten Spielminute zieht Daniel Rupf eine Freistoßflanke von der linken Seite vors Lok-Tor, der Torwart bleibt auf der Linie kleben, Aue-Stürmer Roy Blankenburg köpft aus sieben, acht Metern aufs Tor, ein Schreckensschrei der Lok-Fans … der Ball geht drüber. 5327 Zuschauer sind im Stadion, davon vielleicht 350 aus Aue. Es hat am Vortag aufgehört zu schneien, der Rasen ist noch leicht mit Schnee bedeckt.

16 Uhr 10:
Aus dem Polizeibericht: „Beim Verlassen des Stadions kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen unter den gewaltbereiten Anhängern des 1. FC Lok Leipzig. Diese Streitigkeiten konnten durch die Polizeikräfte schnell unterbunden werden, so dass der Abfluss von der Connewitzer Str. in Richtung Prager Straße ohne größere Störungen erfolgen konnte. Gegen 16.18 versuchten 80 gewaltbereite Anhänger des 1. FC Lok in Richtung des Abfahrtortes der Zuschauer aus Aue zu gelangen, dies unterbanden die dort eingesetzten Kräfte im Kreuzungsbereich der Connewitzer/Prager Straße.“

14 Uhr 10:
Lok kommt besser ins Spiel. Abwehrmann Anton Köllner geht mit nach vorn, ist plötzlich ganz allein vor Aue-Schlussmann Stefan Flauder, Köllner, fast zwei Meter groß, schießt aus kurzer Distanz, doch Flauder hält.

14 Uhr 45:
Halbzeit. Bericht aus dem Internet: „Ein geiler Tag (…) Kurz nach Halbzeit Sturm auf Zaun der Gegengerade zu Gästeblock mit ca. 70 Leuten davon 20 sehr Gute. Auf Zaun und nur durch massiven Angriff von Pfefferspray durch Bullen davon gehindert, den Block zu stürmen. 1 : 0 für die Bullen.“

Gegen 14 Uhr 20:
Fast das 1 : 0 für den FC Lok. Torjäger René Häusel kommt an den Ball, er dreht sich mit dem Ball am Fuß um die eigene Achse, „Mach es, René!“, schreien die Fans, er lupft den Ball aus halblinker Position Richtung Tor, Richtung langer Pfosten, er hat den Ball raffiniert angeschnitten, „Geh rein!“, schreien die Fans, es fehlen ein paar Zentimeter.

Ca. 16 Uhr 40:
Eine Polizistin sitzt allein in einem Einsatzfahrzeug. Eine größere Gruppe Hooligans versucht, das Auto umzukippen. Sie schafft es nicht und beginnt, mit Eisenstangen auf das Auto einzuschlagen, Betonteile werden gegen Front und Heck geworfen. Die Polizistin drinnen hält ein Funkgerät in der Hand und hat den Mund weit geöffnet.Der Sprecher der Polizeidirektion Leipzig: „Wenn man eine Schusswaffe in das Gesicht gedrückt bekommt, ist man heilfroh, wenn man da unverletzt wieder rauskommt – egal ob die Waffe echt war oder nicht.“

14 Uhr 29 bis 14 Uhr 33:
Das Spiel hat sich seit einigen Minuten beruhigt. Doch plötzlich kommt wieder Lok-Stürmer-Ass René Heusel an den Ball und schießt aus spitzem Winkel, „Tooor!“, schreien einige der 5000, aber der Ball ging nur ans Außennetz. Dann die erste große Chance für Erzgebirge Aue. Andreas Lobsch bringt einen Freistoß von der rechten Eckfahne in den Strafraum, Christian Siemund springt höher als sein Gegenspieler, und der Ball schlägt aus sieben Metern im Tor ein. Die 350 Aue-Fans jubeln, 5000 schweigen.

Nach 16 Uhr 30: Zwei Zivilpolizisten unter den 800 außerhalb des Stadions, die die uniformierten Kollegen angreifen. Sie tragen szenemäßige Kleidung, um nicht aufzufallen.„Fünf, vier, drei“, brüllen einige der Hooligans, bei „eins“ stürmen sie auf die Polizisten und deren Einsatzfahrzeuge zu. Steine werden aus dem Pflaster gerissen, Steine aus dem Gleisbett der Straßenbahn gesammelt. Steine fliegen, auch Eisenstangen sind im Einsatz, die ersten Müllcontainer brennen und werden auf die Straße gezogen. Dort ist auch die Reiterstaffel unterwegs, große Pferde, auf denen die Reiter so klein wirken, sie nähern sich langsam dem Pulk der Hooligans, Kommandos werden gebrüllt, und jetzt fliegen die Steine in Richtung der Pferde.

Bericht aus dem Internet:
„Beide umgedreht, ich dem einen ein Schlag auf den Hinterkopf und dann unseren Leuten die Bullen zu erkennen gegeben. Folge >Hatz auf die Bullen> Zick Zack Kaninchen Kurs der Zivis mit Purzelbäumen im Laufen. Eh den ging echt der Arsch, von ca. 15mann gejagt. Dann der große war weg, der schwarze durch Beinstellen gestürzt und am aufstehen panisch sich umdrehend einmal in die Luft geschossen. das ganze spielte sich hinter dem Mob ab, der Steinbeschuss auf die Bullen ging unterdessen weiter.“

2. Halbzeit, nach 15 Uhr:
Leuchtraketen und Feuerwerkskörper fliegen aufs Spielfeld. Rauch- und Nebelschwaden ziehen durchs Stadion. Schiedsrichter Schinköthe unterbricht die Partie und schickt beide Mannschaften zurück in die Kabinen. Polizei dringt in den Auer Fanblock vor. Nach 13 Minuten kann wieder angepfiffen werden. Sofort das 2 : 0 für Aue. Daniel Rupf schießt aus acht Metern ein.

Nach 16 Uhr 30:
Ein Polizist sitzt in einem Fahrzeug. Die Tür ist nicht verschlossen. Ein Mann reißt die Tür auf und zieht eine Waffe, die er dem Polizisten auf den linken Oberschenkel setzt und abdrückt. Der Polizist schreit, der Mann verschwindet. Der Polizist blickt auf seinen Oberschenkel, der Stoff seiner Hose ist ein wenig verbrannt. Sein Bein tut weh. Er verriegelt die Tür.

Aus dem Polizeibericht:
„Am Rande des Fluchtweges der Kollegen bildete sich eine Art ,Spalier‘, welches die Polizeibeamten durchlaufen mussten. Hierbei wiesen die Verfolger immer wieder darauf hin, dass es sich um zivile Polizeibeamte handelt. Die an dem Rand stehenden Anhänger des 1. FC Lok schlossen sich der Masse der Verfolger an und skandierten heftigste Losungen gegen die Zivilbeamten. Nachdem ein Kollege durch körperliche Attacken der Verfolger zu Fall kam, wurde er dermaßen bedrängt, dass er sich zur Androhung der Schusswaffe entschloss. Trotzdem ließen die Verfolger nicht von ihm ab und sammelten in der Nähe abgelagerte Gegenstände auf.“

Ebenfalls nach 16 Uhr 30: Bericht aus dem Internet:
„Tatort vorm Stadion nach dem Spielende: Mit ca. 300 Mann gesammelt und ohne Überlegen gleich Bullenwagen angegriffen und demoliert. Kurzes Hin und Her mit Bullen ohne zu verlieren. 1 : 1 (…) Was im Anschluss folgte waren lose Angriffe auf vorbeifahrende Streifenwagen, Türe auf, Leuchtspur rein, Steine drauf, sich vor Angst in die Hosen scheisende Bullen die versucht haben, aus dem Stau auszubrechen und über den Bürgersteig mit den Wagen flüchteten.“Aus dem Polizeibericht: „Noch während des Angriffs versuchte eine größere Anzahl von Störern zu den Diensthunden zu gelangen, um diese einsatzunfähig zu machen. (…) Gleichzeitig versuchten andere Störer die eingesetzten Dienstpferde durch Steinwürfe zu verletzen. (…) Bei den Auseinandersetzungen wurden weiterhin insgesamt 36 Polizeibeamte verletzt und 21 Fahrzeuge beschädigt.“

Gegen Ende des Spiels, 16 Uhr: In der 82. Spielminute erhält Lok-Kapitän Holger Krauß die Gelb-Rote Karte. Drei Minuten später muss der Auer Marcel Nolde ebenfalls vorzeitig in die Kabine. Kurz vor Schluss vollendet der Ex-Leipziger Silvio Schwitzky einen Konter der Auer zum 3 : 0 Endstand. Der Schiedsrichter pfeift ab.

Nach Spielende: Bericht aus dem Internet: „Ganz großes Lob an unsere jungen Leute für die das echt heute mal ein mega Erlebnis gewesen sein muß, Grüße und Genesungswünsche an alle Verletzen. Rechtschreibfehler seien mir verziehen.“

Auf der Kreuzung Connewitzer/Prager Straße haben sich die Hooligans neu formiert. Die meisten haben ihre Gesichter mit Schals oder Tüchern vermummt. Immer noch fliegen Steine. In der Mitte der Kreuzung hat eine Gruppe von Polizisten einen Kreis gebildet. Etwas außerhalb des Kreises ein brennender Müllcontainer, daneben ein umgestürztes Fahrrad. In der Mitte des Kreises läuft ein Rettungssanitäter. Er trägt eine orangefarbene Weste mit weißen Streifen, er blickt zu Boden.

Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Leipzig. Die Helden seines Romans „Als wir träumten“ sind junge Fußballfans im Leipzig der Nachwendejahre. Sie ziehen durch die Straßen, sie feiern, randalieren und fliehen vor Skinheads, ihren Eltern und der Zukunft. Alle Fluchtversuche enden auf den Fluren des Polizeireviers Südost.

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